People Pleaser*innen sind besonders einfühlsam und kooperativ. Doch wenn sie keine Grenzen setzen, werden sie ausgenutzt. Deshalb müssen sie lernen, ihre Stärken gezielt statt automatisch einzusetzen.
Natalie1arbeitet seit zwei Jahren in der Produktion eines mittelständischen Unternehmens. Sie ist bekannt dafür, immer hilfsbereit und freundlich zu sein. Ihre Kolleg*innen und Vorgesetzten schätzen ihre Zuverlässigkeit. Als ein neues Produkt auf den Markt gebracht wird, gibt es für alle im Team viel zu tun, besonders für Natalie. Die Teamleitung fragt im Meeting, wer die Kundenpräsentation übernehmen kann. Die meisten meiden den Augenkontakt. Natalie nicht. Obwohl sie bereits mit mehreren Projekten überlastet ist, sagt sie zu.
In den kommenden Wochen flackern ihre üblichen Stresssymptome auf. Schlechte Haut, Kopfschmerzen, Tinnitus, der Magen macht ihr Probleme. Sie schläft schlecht, kann sich weniger gut konzentrieren, macht vermehrt Fehler. Privat ist sie angespannt, da sie trotz immens erhöhter Arbeitszeit ihre Verabredungen nicht absagen möchte. In ihrer Beziehung kommt es zu Konflikten, ihr Partner wirft ihr vor, sie habe kaum noch Zeit und Aufmerksamkeit für ihn.
Als Psychotherapeut, der seit fast zehn Jahren mit Patient*innen in Einzel-, Paar- und Gruppentherapie arbeitet, habe ich viele Menschen kennengelernt, die ihre eigenen Bedürfnisse lange nicht wahrgenommen, geschweige denn verteidigt haben, wie meine ehemalige Patientin Natalie. Seit Kurzem gibt es für ein solches Verhalten einen neuen Begriff: People Pleasing. Er beschreibt das Streben, anderen zu gefallen. People Pleaser*innen sind sehr besorgt darüber, wie andere sie wahrnehmen, und tendieren dazu, ihre eigenen Bedürfnisse und Meinungen zurückzustellen, um Konflikte zu vermeiden. Oft fürchten sie Ablehnung oder Kritik.
Nie wieder schlechte Meetings!
Abo + Geschenk holenDie Ursprünge für solch ein Verhalten können ganz unterschiedlich sein. Natalie hatte, unter anderem, emotional sehr fragile Eltern, die ihr als Kind oft die Schuld für ihr Leid gegeben haben, wenn sie sich für ihr eigenes Wohl einsetzen wollte. Zum Beispiel als sie als Schülerin von ihrem Wunsch erzählte, eines Tages in einer anderen Stadt zu studieren. Ihre Mutter sei daraufhin in Tränen ausgebrochen und habe ihr vorgeworfen, Natalie würde sie nicht genug lieben. Ihr Vater sprach tagelang nicht mehr mit ihr. Sie lernte, ihre Bedürfnisse zu vergraben, um andere nicht zu verletzen.
Bei einem weiteren Patienten gab es im Elternhaus keinerlei offen ausgelebte Konflikte, sodass er nie gelernt hat, dass diese auch produktiv sein können. In einem anderen Fall musste eine Patientin in ihrer Jugend eine Phase des Mobbings durchmachen. In der Folge setzte sie alles daran, niemals wieder Ziel vom Missmut anderer zu werden.
Langfristig funktionieren solche Strategien eher schlecht. Früher oder später geraten viele der Menschen in Kontexte, in denen dieses Muster sie nicht mehr schützt, sondern dafür sorgt, dass sie den Anschluss verlieren und sich fragen, warum die Welt so rücksichtslos mit ihnen umgeht. Oft machen sie diese Erfahrung das erste Mal in der Arbeitswelt.
Im schlimmsten Fall können People Pleaser*innen nämlich im Büro zum Problem werden – für sich selbst und ihr Team. Weil sie ständig über ihre Grenzen gehen und letztendlich ausbrennen. Als Natalie sich hilfesuchend an einen Psychotherapeuten wendet, ist sie seit zwei Monaten krankgeschrieben und macht sich deswegen Vorwürfe. Sie habe sich selbst überfordert, sagt sie im Erstgespräch. Sie müsse wohl besser auf ihre Grenzen achten und könne das so schlecht, weil sie einfach eine People Pleaserin sei. Als sie den Begriff nennt, wirkt sie verzweifelt, lächelt aber. Wahrscheinlich, um mich mit ihrer Trauer nicht zu belasten. Ihr ist ja wichtig, dass es ihrem Gegenüber gut geht. Sogar in ihrer eigenen Therapiesitzung.
People Power
Der Begriff People Pleaser*in wird häufig als Problembegriff, zuweilen sogar abwertend verwendet. Manche Kolleg*innen nutzen People Pleaser*innen für ihre eigenen Zwecke aus. Einige sehr selbstbewusste Menschen, die auch dementsprechend direkt kommunizieren, finden den Kontakt zu People Pleaser*innen anstrengend. Sie werten diese ab als Personen, die sich nicht durchsetzen können, viel betreut werden müssen, nicht belastbar sind – und die versuchen, die eigene Unfähigkeit durch ihre Freundlichkeit zu überdecken.
Bezeichnen Menschen sich selbst als People Pleaser*in, scheinen sie damit ebenfalls eine Schwäche zu meinen, für die sie sich entschuldigen. Damit drücken sie aus, dass man sie nicht zu ernst nehmen sollte. Was jedoch oft übersehen wird, ist, dass People Pleaser*innen auch wichtige Stärken entwickelt haben: Der jahrelang trainierte Fokus auf die Bedürfnisse anderer trainiert die eigene Empathiefähigkeit.
Jene Patient*innen, die sich People Pleaser*innen nennen, habe ich als Personen mit sehr hoher emotionaler Intelligenz wahrgenommen. Sie sind oft einfühlsam, gute Zuhörer*innen und können auf Anliegen anderer eingehen. Sie sind in der Regel beliebt, haben häufig enge, langfristige Freundschaften und wenig Angst vor Nähe. In romantischen Beziehungen fällt es ihnen eher leicht, Intimität herzustellen. Auch beruflich sind sie oft erfolgreich und können mühelos gute Netzwerke knüpfen. Es fällt ihnen leicht, an neuen Arbeitsstellen Kontakt mit anderen aufzunehmen und dadurch gut im Team anzukommen. Sie sind kooperativ und finden Lösungen, von denen alle Seiten profitieren. Das macht sie zu starken und gern gesehenen Kolleg*innen. Oftmals sind sie es, die eine Abteilung bei schweren Konflikten oder Herausforderungen zusammenhalten. Sie erhalten regelmäßig Anerkennung und positive Rückmeldungen und werden für ihre Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Fürsorge gelobt.
Andere Länder, andere Spielregeln
Doch People Pleasing ist nicht nur abhängig vom Individuum, sondern auch vom Umfeld. Gehen die Menschen in einer Gruppe bedürfnisorientiert miteinander um, wird das Verhalten weniger problematisiert, sondern eher positiv bewertet. Diese Erfahrung hat auch Natalie gemacht. Sie ist erst in diesem aktuellen Unternehmen mit genau diesem Kollegium in die Krise geraten – in vorherigen Anstellungen ist ihre rücksichtsvolle Art auf ebenso einfühlsame Reaktionen gestoßen. Das zeigt, wie wichtig der jeweilige Rahmen ist.
Am besten lässt sich dies durch den persischen Begriff Taarof beschreiben, für den es keine gute Übersetzung gibt. Im Iran ist Taarof eine seit Jahrhunderten bestehende kulturelle Praxis und beschreibt ein soziales Verhalten, das auf den ersten Blick sehr an People Pleasing erinnert. Es ist eine Form der Höflichkeit mit komplexen Kommunikationsmustern, bei denen Personen sich gegenseitig Angebote machen, die aber eigentlich nicht so gemeint sind. Von der anderen Person wird erwartet, die Offerte abzulehnen oder zumindest zu zögern, selbst wenn sie sie eigentlich akzeptieren möchte. Das würde niemand aussprechen, alle Beteiligten verstehen es aber. Es liegt dann an derjenigen Person, die das Angebot gemacht hat, mehrfach darauf zu bestehen oder es letztendlich zurückzuziehen. „Mach’ bitte kein Taarof“ ist dabei eine ständig wiederholte, aber stets ignorierte Aufforderung beider Seiten.
Dieses Ritual kann zu einer Art sozialem Tanz zwischen den Parteien werden, bei dem es darum geht, die richtige Balance zwischen Gastfreundschaft und Bescheidenheit zu finden.
Gefragt, wie hoch die Rechnung ist, könnte eine Taxifahrerin antworten: „Ach, für Sie, meine Freundin, nichts!“ Checkt jemand aus dem Hotel aus und fragt nach dem Preis für die Übernachtung, antwortet der Rezeptionist vielleicht „Ihre Rechnung? Geht aufs Haus!“ Trotzdem sollten Besucher*innen weder das Taxi noch das Hotel verlassen, ohne zu bezahlen. Wenn es aber doch passiert, wer ist dafür verantwortlich? Die vermeintlichen People Pleaser*innen oder die vermeintlich unhöflichen Tourist*innen?
Das kommt darauf an, wo die Szene stattfindet. Im Iran wäre es höchst egoistisch, ein solches Angebot wirklich anzunehmen. Wer das zu oft tut, gerät ins soziale Abseits und wird bald von anderen gemieden. Anderswo wäre eine Person selbst schuld, so eine naive Offerte gemacht zu haben. Sie bliebe auf dem Verlust sitzen. Je nachdem, wie sich die Mehrheit benimmt, was also die Norm ist, werden sich nicht der Norm entsprechend verhaltende Menschen entweder als People Pleaser*innen oder Egoist*innen bezeichnet. Die Lösung lautet aber nicht, dass sich eine Gruppe der anderen unterordnen oder sie sich beide gar komplett voneinander fernhalten müssen. Der vielversprechendste Weg ist, die eigenen Optionen zu erweitern.
Was bedeutet das im Büro?
Jedes Unternehmen ist ein eigener Kulturkosmos. In manchen Betrieben gilt eine Person als besonders durchsetzungs- und führungsstark, die anderswo als narzisstisch abgestempelt wird. People Pleaser*innen können auch in ungewohntem Kontext aufblühen und ihre Stärken voll ausleben, ohne in Überforderungszustände zu geraten. Dafür müssen sie ihre Stärken flexibel statt automatisiert einsetzen. Damit das gelingt, gilt es vor allem, an drei Dingen zu arbeiten:
1. Selbsterkenntnis
Wo befinde ich mich normalerweise auf dem Spektrum von Egoist*in bis People Pleaser*in? Zu welchem Stil neige ich automatisch? Gibt es bestimmte Konstellationen in Beziehung, Freundschaften oder beruflichen Kontexten, in denen ich in die eine oder andere Richtung kippe? Wenn ja, warum? Was versuche ich zu vermeiden, indem ich mich unterordne? Kann ich lernen, mehr Risiko einzugehen und auch mal Konflikte oder Kontrollverlust auszuhalten?
2. Optionserweiterung
Wie weit kann ich mich in jede Richtung auf dieser Skala von Egoist*in bis People Pleaser*in bewegen? Was ist also mein Handlungsspielraum? Es geht nicht um eine Verschiebung eines permanenten Standpunktes, sondern eine Erweiterung des Bereiches, aus dem wir uns bedienen können. Es ist kein Entweder-Oder. Wir lassen unsere gewohnten Spielregeln nicht hinter uns, sondern erweitern die Zahl der Tische, an denen wir spielen können – und damit die Zahl der Menschen, mit denen wir produktiv arbeiten können. Ein neues Spiel lernt man am besten nicht mit hohen Einsätzen und missgünstigen Menschen, sondern in Ruhe und unter Freund*innen.
3. Menschenkenntnis
Mit den neuen Fähigkeiten ausgestattet, geht es nun darum, zu erkennen, wo diese angebracht sind. In welchem Kontext und in Kontakt zu welchen Personen brauche ich die unterschiedlichen Optionen? Wir müssen unser Umfeld beobachten oder uns informieren, welches Verhalten im jeweiligen Setting erwartet wird. Die iranische Taxifahrerin wird allein aus ökonomischen Gründen lernen müssen, bei wem sie lieber keine Freifahrten anbietet. So kann sie zum Beispiel von Tourist*innen nicht erwarten, die iranischen Spielregeln zu kennen.
Infobox
Artikel wie dieser können im besten Fall Impulse liefern. Um das Verhalten langfristig zu ändern, braucht es jedoch Übung. Je weiter das neue Verhalten von unseren alten Mustern entfernt ist, desto geduldiger müssen wir vorgehen. Enge Freund*innen können eingeweiht werden. Eine einfache Klarstellung, dass die Person das Neinsagen üben möchte, kann dabei helfen, dass die Reaktionen freundlich ausfallen. Entspricht das der harten Realität der Arbeitswelt? Noch nicht! Aber die erste Fahrstunde nehmen wir ja auch nicht nachts bei Sturm auf der Autobahn mit 120 km/h. Es gilt, behutsam zu starten. Hier ein paar Beispiele:
Überstunden ablehnen: Wenn der*die Chef*in fragt, ob man Überstunden machen kann, obwohl man bereits Pläne hat …
Mögliche Antwort: „Ich habe heute schon andere Verpflichtungen und kann keine Überstunden machen. Morgen habe ich noch eine Lücke, wollen wir einen Termin vereinbaren?“
Soziale Einladungen: Wenn Freund*innen spontan vorschlagen, auszugehen, obwohl man sich nach einem ruhigen Abend sehnt …
Mögliche Antwort: „Danke für die Einladung, aber ich brauche heute Abend etwas Zeit für mich. Wünsche euch viel Spaß!“
Verpflichtungen: Wenn Familienmitglieder erwarten, dass man an allen Veranstaltungen teilnimmt …
Mögliche Antwort: „Ich werde dieses Mal leider nicht teilnehmen können. Ich hoffe, ihr habt ein schönes Treffen!“
Entscheidungen treffen: Wenn man bei gemeinsamen Entscheidungen immer nachgibt, um den*die Partner*in zufriedenzustellen.
Mögliche Antwort: „Mir ist es wichtig, dass wir auch Entscheidungen treffen, die meinen Wünschen entsprechen.“
Manche empfinden es als hilfreich, Antworten aufzuschieben, um sich selbst Zeit für die Entscheidung einzuräumen: „Ich würde gerne, muss aber erst noch prüfen, ob es geht. Ich melde mich!“ Eine andere Strategie kann sein, den internen Konflikt zu benennen: „Wie wichtig ist es dir? Ich habe schon etwas vor und müsste darauf verzichten. Wie dringend brauchst du meine Hilfe? Hast du noch andere Optionen?“
Natalie kann in manchen Freundschaften und in ihrer Partnerschaft so weitermachen wie bisher. Dort ist sie unter People Pleasern, die sich nicht so nennen, weil diese Art von Verhalten für sie die Norm ist. Es sind Menschen, die aufeinander achten und sich gegenseitig Hilfe anbieten, bevor sie gefragt werden, und mehr davon leisten, als gebraucht wird. Und weil das alle tun, kommt niemand zu kurz. Natürlich ist auch hier nicht alles perfekt, aber es funktioniert gut genug.
Wäre Natalie am Arbeitsplatz in einem besonders kooperativen Team, würde diese Strategie auch dort funktionieren. Ist sie aber nicht mehr. Und muss sie auch gar nicht sein. Denn sie hat ihre Möglichkeiten erweitert. Sie weiß, welche Kolleg*innen andere Spielregeln haben. Diese machen eben nur das, wonach sie gefragt werden. Natalie hat gelernt, das auch zu tun, anstatt insgeheim zu hoffen, dass sie ihre Hilfe von selbst anbieten. Sie bittet sie mittlerweile direkt um Unterstützung. Dieselben Kolleg*innen sagen auch mal ab, wenn es ihnen zu viel wird. Früher hätte Natalie sich darüber insgeheim geärgert. Langfristig wäre sie verbittert darüber, dass sie ausgenutzt wird und nichts zurückbekommt. Nun kann sie sich besser abgrenzen. Bleibt sie in dem Betrieb? Spielt sie mit oder nicht? Es ist ihre freie Entscheidung. Weil sie neue Regeln beherrscht.
Input-Geber
Sina Haghiri ist Psychotherapeut und Autor. Als einer der Drehbuchautoren der ZDF-Serie FETT UND FETT wurde er für den Grimme-Preis nominiert, er moderierte außerdem den Psychologie-Podcast Die Lösung. Er meint: „Erst wenn wir unsere Muster verstehen und darum wohlwollend mit ihnen umgehen können, öffnet sich der Weg, sie zu verändern. Gleichzeitig brauchen wir aber Verständnis für andere, z.B. um negative Erfahrungen auch mal als menschliche Fehlbarkeit zu erkennen, anstatt sie immer mit einer bösen Intention uns gegenüber zu erklären.“ Warum das aber heutzutage gar nicht so leicht ist und was wir trotzdem tun können, darüber schreibt er in seinem aktuellen Buch Mit Nachsicht – wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann.
FUßNOTEN
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Name und identifizierbare Merkmale geändert ↩