Wenn wir unsere Wirtschaft zukunftsfähig machen wollen, dann müssen wir endlich anfangen, anders über Leistung zu denken. Und diversere Gründungen fördern.
Es ist mir wirklich unangenehm, aber ich habe erst mit Mitte dreißig aufgehört, an Märchen zu glauben. Genauer gesagt an das Märchen der Leistungsgesellschaft, in der wir angeblich leben. Ich hatte erfolgreich ein Studium abgeschlossen, Jobs gemacht, um die mich andere beneideten, und mehrere Unternehmen gegründet. Mein Unternehmen Blinkist, in dem ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr arbeitete, an dem ich aber noch Anteile hielt, wuchs und sollte mich schließlich sogar zum Multimillionär machen. Natürlich wollte ich gern glauben, dass ich das vor allem meiner eigenen Leistung verdankte.
Inzwischen weiß ich, dass das Quatsch ist. Mit Leistung hat der Weg nach oben in der Regel wenig zu tun. Meistens beginnt er schon oben. Große Vermögen werden in Deutschland selten erarbeitet, sondern meistens vererbt. Allein durch Arbeit – durch die eigene Leistung also – ein nennenswertes Vermögen aufzubauen, ist dagegen so gut wie unmöglich.
Das zu erkennen, war für mich bitter: In meinem Selbstbild war ich lange ein mutiger, risikobereiter Gründer. Ich war stolz auf meine Fähigkeit, nach einem gescheiterten Schritt wieder aufzustehen und es noch einmal zu versuchen. Dass diese Möglichkeiten jedoch bereits ein Privileg sind, verstand ich erst viel später. Als ich begann, mit Menschen darüber zu sprechen, die dieses Privileg nicht hatten. Im Rahmen der Arbeit an meinem Buch Toxisch Reich habe ich beispielsweise mit Aileen Puhlmann, der Vorständin des gemeinnützigen ChariTea & Lemonaid Vereins, gesprochen, die nicht wie ich mit dem sicheren Gefühl aufwuchs, dass Geld schon irgendwie da wäre, wenn es dringend gebraucht würde. Im Gegenteil: Aileen wuchs mit einer alleinerziehenden Mutter auf, die viel arbeitete und dennoch arm war. Es gab nie Rücklagen und entsprechend keinen Raum für Experimente.
Für mich ist „Leistung“ letztlich ein irreführender Begriff. Wir bezeichnen es als Leistung, wenn jemand ein Unternehmen gründet, das viele Menschen beschäftigt – obwohl viele der Angestellten vielleicht viel härter arbeiten und, gemessen an ihren Möglichkeiten, vielleicht ein höheres Risiko eingehen als der*die Gründer*in. Wir sprechen sogar von Leistungsträger*innen bei Menschen, die durch ein Erbe – völlig leistungsfrei also – ein großes Vermögen geschenkt bekommen und „ihr Geld für sich arbeiten lassen“.

Was ein*e Leistungsträger*in ist, machen viele vor allem an Einkommen und Vermögen fest – so bezeichnete Friedrich Merz erst kürzlich wieder das einkommensstärkste Prozent der Deutschen, den „Mittelstand“, als die Leistungsträger*innen der Gesellschaft. Andere Arbeiten hingegen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft unerlässlich sind – beispielsweise Kinderbetreuung und die Pflege von kranken oder alten Menschen –, nehmen wir als selbstverständlich wahr und entlohnen sie schlecht oder gar nicht. Ihre viel gesellschaftsrelevantere Leistung wird also übersehen.
Unsere Leistung killt die Wirtschaft
Fast nirgendwo trifft so viel privates Kapital auf eine so gut ausgebildete Bevölkerung wie in Deutschland. Doch die deutsche Wirtschaft ist dabei, ihre Vorreiterrolle als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt einzubüßen. Wie kann das sein? Unser unhinterfragter Glaube daran, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, und unsere krude Definition von Leistung werden auch hier zum Problem. Familienunternehmen verstehen sich als Rückgrat der deutschen Wirtschaft und begründen ihren großen Reichtum mit Unternehmergeist, Innovationsfreudigkeit und Risikobereitschaft.
Doch die Realität sieht anders aus: Menschen mit großen Vermögen sind kaum unternehmerisch tätig – viele verwalten und vermehren ihr Geld, indem sie es in Immobilien oder Rohstoffe investieren oder gewinnbringend am Finanzmarkt anlegen. Dadurch entsteht kaum Neues. Im Gegenteil: Alte Geschäftsmodelle werden zementiert. Denn im Grunde sind diese Anleger*innen nicht bereit, das viel gepriesene Risiko zu tragen. Sie wollen eine sichere Geldanlage mit hohen Renditen – und die erreicht man am besten durch Ausbeutung von Ressourcen und Menschen.
In einer tatsächlichen Leistungsgesellschaft hätten wir einen fairen Wettbewerb, doch den gibt es nicht in einer Wirtschaft, in der riesige Vermögen in riesigen Unternehmen stecken. In der der Zugang zu Kapital für die einen so viel leichter ist als für andere. Ein solches System fördert vor allem Monopolbildung, und damit stirbt der Wettbewerb und mit ihm die Innovationskraft. Große Unternehmen kaufen Mitbewerber*innen einfach auf – und werden noch größer. Wir als Konsument*innen denken, es gäbe zig Sorten Bier im Supermarkt oder zig verschiedene Waschmaschinenhersteller. In Wahrheit stehen hinter den vielen Produkten oft sehr wenige Unternehmen. Innerhalb eines solchen Marktes finden selten echte Innovationen statt.
Wer echten und fairen Wettbewerb will, muss dafür auch die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, also das Entstehen von Monopolen verhindern. Kleine Firmen müssen mit großen konkurrieren können, wenn sie für bestehende Herausforderungen bessere Lösungen bieten. Monopole waren immer das Schreckgespenst von Marktverfechter*innen. Heute sind sie zur Regel geworden. Die alten Firmen mit ihren alten Geschäftsmodellen werden die großen Innovationen aber nicht stemmen, die wir für eine zukunftsfähige Wirtschaft brauchen. Wenn niemand ihnen Konkurrenz machen kann, wird Deutschland wirtschaftlich in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Wir brauchen mehr Zebras
Dem Nachwuchs wird es allerdings auch sehr schwer gemacht. Große Teile der Bevölkerung sind so gut ausgebildet, dass sie zwar prinzipiell selbst gründen könnten. Allerdings braucht es dazu zwei Dinge: erstens Know-how – Wissen, das für eine Unternehmensgründung notwendig ist – und zweitens Geld: Gründer*innen sind angewiesen auf teure Dienstleistungen von Steuerberater*innen, Notar*innen usw.
Doch die meisten angehenden Gründer*innen nehmen nicht vom ersten Tag an genug Geld ein, um gleich davon leben zu können. Daher brauchen sie Zugang zu Gründungskrediten und anderen Finanzierungen. Ein Staat, der Innovationen und Gründergeist fördern möchte, sollte auch beim Startkapital unter die Arme greifen. Vor allem, wenn man bedenkt, wie großzügig dieser Staat weiterhin die alten Geschäftsmodelle stützt, beispielsweise durch Subventionen für Industrien mit hohem Energieverbrauch.1 Gründer*innen, die neue Geschäftsmodelle für klimaverträgliches Wirtschaften finden wollen, werden bisher nicht ansatzweise in dieser Größenordnung gefördert.
In Deutschland gründen vor allem Menschen, die betriebswirtschaftlich ausgebildet sind. Also gerade nicht die Menschen, die Expert*innen für inhaltlich relevante Themen wie Nachhaltigkeit, Produktdesign oder Gesundheit sind. Das zeigt sich auch in der Start-up-Welt: Technologie-Start-ups werden meist von Betriebswirt*innen gegründet. Die Gründer-Teams sind oft männlich, weiß und privilegiert. Die Innovationskraft bleibt da überschaubar.

Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland von einer bunten Gründungswelt sehr profitieren würde, in der viele Menschen sich ausprobieren und ihre Potenziale einbringen könnten. Hierfür wird in den vergangenen Jahren immer häufiger das mir sehr sympathische Bild der Zebras bemüht. In der männlich dominierten, toxischen Start-up-Welt wollen alle zu Einhörnern werden: Das sind mit extraktivem Kapital vollgepumpte Unternehmen, die schon wenige Jahre nach der Gründung einen Marktwert von über einer Milliarde Euro erreichen. Sie heißen Einhörner, weil sie so selten sind. Dass die meisten Einhörner zu destruktiven Monopolisten werden, wird inzwischen aber immer mehr Menschen bewusst.
Daher der neue Hype um Zebras: Zebra-Unternehmen sind kleiner, diverser, tauchen in Herden auf, arbeiten also mit anderen kleinen Unternehmen zusammen, um große Dinge anzugehen und umzusetzen. Zebras setzen auf Kooperation. Sie haben in der Regel keine profitmaximierenden Shareholder*innen im Rücken und können sich darauf fokussieren, einen Wert für die Nutzer*innen und die Gesellschaft zu schaffen. Zum Konzept des Zebras gehört üblicherweise auch, dass es keine toxische, männlich geprägte Führungskultur gibt, sondern stattdessen psychologische Sicherheit, Diversität und Inklusion.
Auch um ein Zebra aufzubauen, braucht es allerdings Kapital – sie gehen aber bei Investitionen häufig leer aus. In Deutschland wird im Vergleich mit anderen Staaten viel Geld in Form von Venture Capital in Start-ups investiert: rund 10 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Geld landet jedoch überwiegend bei einer kleinen, homogenen, ohnehin schon privilegierten Gruppe. Und der geht es nicht darum, gesellschaftliche Probleme zu lösen, sondern vor allem darum, noch mehr Geld zu verdienen.
Wir brauchen ein neues Bild von Unternehmer*innen
Deshalb brauchen wir eine Pluralisierung des Unternehmertums – und eine Pluralisierung der Vermögen. Viele Menschen sollten unternehmerisch wirken und Innovationen hervorbringen können. Wir brauchen eine Vision, in der ein Großteil der Bevölkerung seine Potenziale nutzt, um aktiv eine Wirtschaft zu gestalten, die gut für alle ist. Der Staat muss den Rahmen dafür setzen, welche Arten von Gründungen gefördert werden: Wird mehr Diversität gewünscht? Warum dann nicht Gründungsteams mit Zuschüssen fördern, die nicht nur aus Sebastians, Pauls und Maltes bestehen? Soll die deutsche Wirtschaft Vorreiterin in Klimatechnologien sein? Wo bleiben dann die Förderungen, die diese Art von Gründungen begünstigen?
Wenn Leistung und Unternehmertum sich wieder lohnen sollen, dann müssen wir beides belohnen und fördern. Und zwar dann, wenn sie einen Mehrwert für unsere Gesellschaft schaffen, und nicht, wenn sie nur zum Ziel haben, einzelne Menschen sehr reich zu machen. Wir stehen vor großen Herausforderungen, und eins ist klar: Die Wirtschaft der Zukunft muss ganz anders aussehen als die Wirtschaft der Gegenwart. Ich bin aber sicher, dass wir sie so gestalten können, dass sie für alle gut wird.
Toxisch reich
FUßNOTEN
- 1
Im Jahr 2018 gab der deutsche Staat laut Umweltbundesamt rund 65 Milliarden Euro für umweltschädliche Subventionen aus. Umweltbundesamt: Umweltschädliche Subventionen in Deutschland (2021) ↩