Unsere Gesellschaft lebt vom Ehrenamt. Doch vielen Menschen fehlt die Zeit, sich ehrenamtlich zu engagieren. Wie können Organisationen Freiräume für ihre Mitarbeiter*innen schaffen?
Was ist ein*e gute*r Bürger*in? In der griechischen Antike war die Antwort klar: Ein guter Bürger1 ist einer, der partizipiert und seine gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Wer kein öffentliches Amt innehatte, sondern nur für sich und das eigene Interesse lebte und wirtschaftete, wurde damals als idiotes bezeichnet. Der Begriff wurde damals nicht wertend genutzt, veränderte seine Konnotation aber im Laufe der Zeit. Daher stammt das Wort Idiot.
Die Demokratie lebt auch heute von der Einmischung der Bürger*innen. Ein Teil davon ist ehrenamtliche Arbeit. Dr. Adriana Lettrari, Geschäftsführerin der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern, sagt: „Engagierte tragen zum Gemeinwohl der Gesellschaft bei. Nicht nur das Kreuzchen an der Wahlurne ist ein partizipativer Moment, sondern jede Stunde ehrenamtliche Arbeit, die in der Woche geleistet wird.“
Ehrenamtliche halten unsere Gesellschaft am Laufen
Laut dem Deutschen Freiwilligensurvey 20192 engagieren sich in Deutschland 28,8 Millionen Menschen freiwillig. Das sind fast 40 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren – Tendenz in den letzten 20 Jahren steigend. Gleichzeitig stecken Menschen immer weniger Stunden in die freiwillige Arbeit: 60 Prozent der Befragten investieren „nur“ zwei Stunden in der Woche.3 Seit 1999 ist der Anteil der Engagierten, die für ihre Tätigkeit sechs und mehr Stunden pro Woche aufbringen, von 23,0 Prozent auf 17,1 Prozent gesunken. Viele engagieren sich zudem eher punktuell zu bestimmten Anlässen.
Es ist schwer, den Wert von Engagement in Zahlen zu fassen. In einer Studie von 2009 wird vermutet, dass bürgerschaftliches Engagement 35 Mrd. Euro zum Gemeinwesen beiträgt, und eine neuere Studie von 2022 legt nahe, dass der wirtschaftliche Gegenwert von ehrenamtlich erbrachter Arbeit inzwischen allein in NRW 19,14 Mrd. Euro beträgt.4
Der Unterschied zwischen Ehrenamt und Engagement
Einige Aspekte der allgemeinen Daseinsvorsorge basieren sogar strukturell auf dem freiwilligen und unbezahlten Engagement von Bürger*innen – zum Beispiel freiwillige Feuerwehren. Sie springen ein, wenn der Bus auf dem Land abgeschafft wurde und bilden Fahrgemeinschaften. Oder sie stehen am Bahnhof, wenn über Nacht Tausende von Menschen aus der Ukraine in Deutschland ankommen.
Dass Menschen in ihrer Freizeit Aufgaben übernehmen, die eigentlich dem Staat zufielen, ist ein relativ neues Phänomen. Infolge der Ölkrise 1973 kam es zu einem politischen Paradigmenwechsel, in dessen Folge Wachstum und Wohlstand nicht mehr als Aufgabe des Staates, sondern des Marktes verstanden wurden. Galionsfiguren dieser neoliberalen Politik waren Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA: Sie privatisierten Staatseigentum, bauten soziale Sicherungen ab und führten, um die Konjunktur anzukurbeln, steuerliche Erleichterungen für Wohlhabende ein. Deutschland folgt seit der Regierungszeit Gerhard Schröders diesem Kurs.5
Weil der Staat durch diesen Umbau auf Steuereinnahmen verzichtet, mussten und müssen Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge gekürzt werden. Sie werden entweder zu Ehrenämtern oder entfallen ganz. Die fast dreißig Jahre, in denen der Wohlfahrtsstaat Stück für Stück zurückgefahren wurde, lassen sich natürlich nicht über Nacht rückgängig machen. Dennoch sollte bei einigen ehrenamtlichen Tätigkeiten gefragt werden, ob hier nicht eigentlich eine relevante gesellschaftliche Funktion erfüllt wird, die bezahlt werden sollte.
Das Zeitproblem
Das System ist inzwischen darauf angewiesen, dass Menschen sich ehrenamtlich engagieren. Doch der Trend zu Arbeitszeitverlängerung und flexibilisierten Arbeitszeiten macht es erwerbstätigen Menschen immer schwerer, sich einzubringen. Denn bei einer 40-Stunden-Arbeitswoche bleibt kaum Zeit. Auch im Freiwilligensurvey zeigt sich das: Ausgeprägt ist der Anstieg von ehrenamtlichen Tätigkeiten vor allem bei den Altersgruppen über 65, also bei Rentner*innen. Sie haben auch oft zeitaufwendige freiwillige Tätigkeiten.
Kürzere Arbeitszeiten und eine veränderte Zeiteinteilung sind schon immer Forderungen der Arbeitnehmer*innenbewegung. Das Leben besteht schließlich für die meisten Menschen aus mehr als nur Erwerbsarbeit. Die Soziologin Frigga Haug entwickelte Ende der 1980er-Jahre die Vier-in-eins Perspektive: Bei der Annahme, dass Menschen etwa 16 wache Stunden am Tag haben, bekommen vier gleichberechtigte Arbeitsfelder jeweils vier Stunden Zeit zugeschrieben: Jeder Mensch sollte täglich etwa vier Stunden erwerbstätig sein, vier Stunden der Carearbeit widmen, sich vier Stunden der eigenen Entwicklung zuwenden und vier Stunden gesellschaftlich aktiv werden.
Haugs Ideen scheinen noch visionär, aber die Frage, warum Ehrenamt einerseits so wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllen soll und andererseits nicht die dafür benötigte Zeit zur Verfügung gestellt bekommt, ist durchaus relevant.
Corporate Volunteering
Bisher tut sich in dieser Richtung politisch nur wenig und es sieht nicht so aus, als würde sich das in der näheren Zukunft ändern. Erste Lösungsansätze für die Probleme des Ehrenamtes finden sich eher auf der Ebene von Organisationen.
Unternehmen können das ehrenamtliche Engagement ihrer Mitarbeiter*innen fördern und damit nicht nur zur Sinnstiftung beitragen, sondern selbst ein aktiver und gestaltender Teil der demokratischen Gesellschaft werden. Wenn Ehrenamts- und Engagementförderung in Unternehmensstrukturen verankert sind, spricht man von Corporate Volunteering (CV).6 Es nützt gleichermaßen Mitarbeiter*innen, Ehrenamtsstrukturen und Unternehmen, z.B. durch eine stärkere Mitarbeiter*innenbindung und eine höhere Arbeitgeberattraktivität.
Drei Schritte, um Corporate Volunteering zu implementieren
1. Strategische Ausrichtung oder Unterstützung von privatem Engagement?
Corporate Volunteering sollte nicht vorrangig der eigenen PR oder Unternehmensentwicklung dienen, sondern der demokratischen Gesellschaft. Es kann aber gleichzeitig bestimmte Fähigkeiten oder Werte im Team fördern oder allgemein die Zusammenarbeit verbessern. Soll zum Beispiel der Unternehmenswert ,Nachhaltigkeit‘ gestärkt werden, dann scheint es naheliegend, eine Partnerorganisation zu unterstützen, die sich für Klima- oder Umweltschutz einsetzt.
Organisation können auch beim privaten Engagement der Mitarbeiter*innen ansetzen. Wer engagiert sich bereits ehrenamtlich? In welchem Bereich wollten wir uns schon immer mal einbringen? Wenn von den privaten Interessen der Mitarbeiter*innen ausgegangen wird, um ein Engagementfeld zu wählen, ist die Motivation besonders hoch.
2. Die Perspektive der Partner–organisation einnehmen
Wenn eine konkrete Organisation für die Zusammenarbeit gefunden wurde, besteht der erste Schritt darin, nachzufragen: Die meisten Ehrenamtler*innen können selbst am besten sagen, was ihnen fehlt. In der Corona-Pandemie sind beispielsweise viele ehrenamtliche Strukturen regelrecht zusammengebrochen, weil gemeinsame Aktivitäten wie Auftritte, Messen oder Sportfest, die helfen, neue Mitglieder anzuwerben und Gelder zu sammeln, nicht stattfanden.
3. Entscheiden, wie Unternehmen konkret unterstützt werden
Es gibt verschiedene Wege, wie Organisationen ehrenamtliche Strukturen unterstützen können:
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Zeit frei machen: Unternehmen können die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter*innen zeitweise oder dauerhaft verkürzen und so die Möglichkeit schaffen, einen Teil der Erwerbsarbeitszeit in ehrenamtliche Arbeit zu stecken. Und das natürlich bei gleichbleibendem Lohn, denn sonst können sich nicht alle beteiligen. So macht es etwa die HR-Agentur Blackbird Collective: Hier haben alle Mitarbeiter*innen eine 24- oder 32-Stunden-Woche. Martín Oliveros Heinze nutzt seine freie Zeit, um mit dem Verein Berlin Shorts e.V. Filmvorführungen an ungewöhnlichen Locations zu organisieren und Supanuch Pongthanacharoenkul berät andere Menschen regelmäßig bei der Veränderung von Berufswegen, indem sie Lebensläufe anschaut oder Bewerbungsgespräche mit ihnen probt.
Alternativ können Social Days eingeführt werden, an denen das gesamte Team gemeinsam für einen guten Zweck arbeitet. Es gibt die Möglichkeit, dass Mitarbeiter*innen einen Tag bezahlte Freistellung im Jahr für ehrenamtliche Tätigkeiten bekommen. Oder Mitarbeiter*innen können bei sogenannten Secondments in gemeinnützige Organisationen entsandt werden, um dort mit professionellen Skills zu unterstützen. -
Mit Personal und Skills unterstützen: Eine der größten Herausforderungen im Ehrenamt ist die Gewinnung neuer Mitglieder.7 „Gelingt es nicht, diese Herausforderungen zu meistern, ist in den nächsten Jahren mit einem flächendeckenden ,Vereinssterben‘ zu rechnen“, so das Ergebnis einer Studie der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Eintrittshürde hoch ist: Wo kann ich mich engagieren? Wen muss ich ansprechen?
Organisationen können bei diesem ,Matchingproblem‘ unterstützen, indem sie beispielsweise ihre Mitarbeiter*innen dazu anregen, über das eigene Engagement zu erzählen. Oder, wie es die Ostseezeitung getan hat, indem sie eine Messe organisieren, bei der sich Vereine und Organisationen aus unterschiedlichen Sektoren vorstellen, die auf der Suche nach neuen Mitgliedern sind. Dann können die Mitarbeiter*innen selbst entscheiden, wo sie sich engagieren. -
Weitere Formen der Unterstützung: Neben dem Mitgliedermangel fehlen in Ehrenamtsstrukturen vor allem Anerkennung und finanzielle Mittel. Unternehmen sollten ehrenamtliche Tätigkeiten im Bewerbungsprozess zudem genauso würdigen wie formelle Abschlüsse. Lettrari sagt: „Im Moment wird Ehrenamt eher als Fußnote erwähnt, während es eigentlich oft ein zentraler Ort des Kompetenzerwerbs ist.“ Und neben Geld können Produkte oder Räumlichkeiten umsonst zur Verfügung gestellt werden.
Eine staatliche Aufgabe
Es ist nicht komplett unbedenklich, wenn ehrenamtliches Engagement von der Unterstützung durch Unternehmen abhängt. Sie können sich theoretisch jederzeit wieder zurückziehen. Eigentlich wäre es Aufgabe des Staates, Daseinsvorsorge zu betreiben. Wenn er diese wichtige Aufgabe aber weiterhin nicht wahrnimmt, sondern sie an seine Bürger*innen auslagert, dann ist es in jedem Fall besser, wenn sich wenigstens Organisationen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen.
Takeaways
- In Deutschland engagieren sich fast 40 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren ehrenamtlich und tragen damit zum Gemeinwesen bei. Allerdings sinkt die Anzahl der geleisteten Stunden – das liegt auch daran, dass vielen Menschen die Zeit fehlt.
- Organisationen können ihre Mitarbeiter*innen durch Corporate Volunteering in ihrem Engagement unterstützen. Sie können ihnen beispielsweise ermöglichen, Arbeitszeit für das Ehrenamt aufzuwenden, oder Strukturen für die Freiwilligenarbeit schaffen.
- Wichtig ist jedoch, dass ehrenamtliche Leistungen in einem wohlhabenden Staat nicht dazu dienen sollten, fehlende staatliche Leistungen auszugleichen.
FUßNOTEN
- 1
Damals natürlich nur männlich … ↩
- 2
Die Umfrage wird seit 1999 alle fünf Jahre durchgeführt. Zum neuesten Bericht. ↩
- 3
Übrigens engagieren sich Frauen und Männer gleich oft, aber Männer wenden anteilig mehr ihrer Zeit für Engagement auf. ↩
- 4
Zur ersten Studie und zur zweiten Studie ↩
- 5
Pinl: „Ehrenamt statt Sozialstaat?“ (2015). ↩
- 6
Phineo: Corporate Volunteering. Schritt für Schritt zum Engagement mit Wirkung – Der Praxisratgeber für Unternehmen (2021). ↩
- 7
Krüger & Vogel: Vielfältige Ehrenamtslandschaft – Ehrenamt in Mecklenburg-Vorpommern (2022). ↩