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Ein Geflecht aus Straßen, Ampeln und Verkehrsschildern, um einen Baum herum
Kinski meets McKinsey

Was kommt nach der Autogesellschaft?

Eigentlich blicken wir bei Neue Narrative eher auf die halb vollen als auf die halb leeren Gläser. Aber heute wollen wir die Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken, das uns wütend macht: den Autowahnsinn. Lasst uns mehr sein als eine Gesellschaft, die Unsummen darauf verwendet, immer mehr Autos und Straßen zu bauen.

Wir leben in einer Auto-Gesellschaft: In Deutschland gibt es mehr Autos als Menschen mit Führerschein. In den 1970er-Jahren waren es noch 15 Millionen, inzwischen sind es über 50 Millionen.1 Und die Autos wurden nicht etwa kleiner und sparsamer, sondern immer größer, PS-stärker und energiehungriger. Jeden Tag werden rund sechs Hektar Flächen versiegelt, um Straßen und Parkplätze zu bauen.2 Dabei sind bereits über 18.000 Quadratkilometer zugepflastert – beinahe die Fläche von Sachsen.3 Meine Heimatstadt Berlin hat in Deutschland das niedrigste Verhältnis von Autos zu Menschen,4 und gerade mal ein Viertel der Wege wird mit dem Auto zurückgelegt.5 Trotzdem ist die Stadt ein einziger großer Parkplatz. Das Auto vereinnahmt nicht nur den gesamten öffentlichen Raum, es beeinträchtigt auch das Leben durch Lärm, Abgase und die Gefahr, im Straßenverkehr getötet zu werden.

„Die größte Schwierigkeit der Welt besteht nicht darin, Leute zu bewegen, neue Ideen anzunehmen, sondern alte zu vergessen.“
John Maynard Keynes

Autos töten

Jedes Jahr richten Autos in Deutschland unfassbar großes Leid an. Die traurige Jahresbilanz der Autounfälle: über 300.000 Verletzte und 2.500 Tote, ganz zu schweigen von den Leiden der betroffenen Angehörigen und traumatisierten Ersthelfer*innen.6 2019 wurde alle 19 Minuten ein Kind bei einem Autounfall geschädigt.7 Aber auch indirekt zerstören Autos Leben: Laut der Europäischen Umweltagentur sterben pro Jahr rund 400.000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung.8

Das Auto als Sinnbild der Maßlosigkeit

Es gibt also viele Gründe, unsere gesellschaftlichen Prioritäten zu hinterfragen. Für mich ist das Auto Sinnbild einer Gesellschaft, die jegliches Maß verloren hat. Es verkörpert einen Zeitgeist, der völlig falsche Prioritäten setzt: Menschen brauchen zwei Tonnen SUV, um sich von A nach B zu bewegen – währenddessen brennen weltweit Wälder und Extremwetterereignisse nehmen von Jahr zu Jahr zu. Und während junge Menschen verzweifelt für ihre Zukunft demonstrieren, kauft der ältere Teil der Bevölkerung routiniert alle paar Jahre ein neues Auto. Dabei sind die Warnungen, dass unser Konsum in eine Sackgasse führt, alles andere als neu.

1972 veröffentlichte der Club of Rome erstmals seinen Bericht Die Grenzen des Wachstums.9 Basierend auf Computersimulationen zeigten die Verfasser*innen, dass die Weltwirtschaft geradewegs in eine Katastrophe steuert. Ein Jahr später forderte der Ökonom Ernst Friedrich Schumacher die „Rückkehr zum menschlichen Maß“. Wie sich nicht nur am Auto zeigt, ist in den fünfzig Jahren seit seinem Appell das genaue Gegenteil geschehen: Wir Deutschen haben das menschliche Maß komplett aus dem Blick verloren.

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Wir müssen neue Prioritäten setzen

Ich verstehe, dass das Auto für die Nachkriegsgeneration ein Stück Freiheit bedeutete: Endlich war man mobil, konnte von den Eltern weg und einmal im Jahr in den Urlaub fahren. Zugleich war die deutsche Automobilindustrie buchstäblich der Motor des deutschen Wirtschaftswunders und ermöglichte einem großen Teil der Bevölkerung den Sprung in die Mittelschicht. Verständlich also, dass Autos einen hohen Stellenwert hatten. Inzwischen leben wir aber in einer völlig anderen Welt, und es wird Zeit, unsere Prioritäten neu zu setzen.

Auch die Zahlen sprechen dafür. So werden beispielsweise die Kosten der Automobilisierung völlig unterschätzt: Ein Auto kostet den*die Fahrzeughalter*in inklusive Unterhalt durchschnittlich 5.000 Euro im Jahr.10 Hinzu kommen noch mal etwa 5.000 Euro pro Jahr und Auto, die für Infrastruktur sowie Schäden durch Verkehrsunfälle und Umweltverschmutzung draufgehen – Kosten, die die Gesellschaft tragen muss.11

10.000 Euro jährlich pro Auto, das sind mehr als 20 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens. In Summe ergeben sich wahnwitzige 500 Milliarden Euro im Jahr – das entspricht etwa dem gesamten deutschen Bundeshaushalt eines Jahres. Für nichts anderes geben wir auch nur annähernd so viel Geld aus wie für Autos.

Schätzungen zufolge entspricht diese Summe ziemlich genau dem, was jährlich nötig wäre, um weltweit die extreme Armut12 und die Folgen der Klimakrise zu bekämpfen.13 Aber statt die beiden größten globalen Probleme unserer Zeit zu lösen, entscheiden wir uns als Gesellschaft dafür, das Geld für Autos auszugeben.

Ist das die Priorisierung, die wir in Deutschland – einer der reichsten Gesellschaften der Weltgeschichte – wollen? Wollen wir weiterhin eine Auto-Gesellschaft sein, die drängende globale Probleme ignoriert und lieber jeden freien Euro in die nächste Autobahn, Umgehungsstraße oder das nächstgrößere Auto investiert? Oder wäre es nicht an der Zeit, ein paar Prozent dieses Wohlstands in die Lösung der Probleme zu investieren, die unser Lebensstil verursacht?14

Autos, die sich auf einer aufgehaltenen Hand stapeln

Was kommt nach der Auto-Gesellschaft?

Wie wollen wir leben? Wofür stehen wir? Was priorisieren wir? In Deutschland scheint die Antwort auf diese Fragen eindeutig: Wir sind eine Auto-Gesellschaft. Ungebremste Automobilität kommt bei uns vor Klimaschutz, ja sogar vor der körperlichen Unversehrtheit der unzähligen Kinder und Radfahrer*innen, die jedes Jahr im Straßenverkehr sterben.

Doch es gibt Hoffnung: Wie eine Studie des Umweltbundesamtes zeigte, ist das Auto zwar weiterhin das wichtigste Verkehrsmittel in Deutschland, aber eine Mehrheit der Deutschen kann sich vorstellen, umzusteigen. Ganze 91 Prozent der Befragten gaben an, dass ihr Leben besser wäre, wären sie nicht mehr auf Autos angewiesen.15

Es stimmt, dass die Automobilindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland ist. Allerdings liegt ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung bei unter fünf Prozent. Nur vier Prozent der Arbeitsplätze haben mit der Automobilbranche zu tun.16 Dass die Interessen dieser Industrie so viel Gewicht bekommen, liegt nicht daran, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sie teilt. Der Grund ist vielmehr, dass kaum eine andere Branche so viel Einfluss auf politische Entscheidungen hat. Das zeigt sich etwa, wenn ein angehender Finanzminister im Stundentakt dem Porsche-CEO Updates über die Koalitionsverhandlungen gibt.17 Oder wenn ein*e Verkehrsminister*in nach dem*der anderen wider besseres Wissen an der Mobilitätspolitik des letzten Jahrhunderts festhält.

In welcher Welt wollen wir leben?

Zugegeben: Ich hasse Autos. Für mich verwandeln sie Menschen in schlechtere Versionen ihrer selbst. Sie machen unsere Städte hässlich, verpesten unsere Luft und töten jedes Jahr Tausende von Menschen allein in Deutschland. Für mich ist das Auto Sinnbild einer Gesellschaft, in der jede*r nur auf sich schaut und in der Konsum alles ist. Nach dem Motto: nach uns die Sintflut!

Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir nicht nur in einer der wohlhabendsten Gesellschaften aller Zeiten leben, sondern auch in einer der gebildetsten und vernunftbegabtesten. Die meisten Menschen wünschen sich eine Welt, in der das Klima nicht völlig außer Kontrolle gerät. In der auch noch ihre Kinder und Enkelkinder leben können, ohne Klimakriege und ähnliche Katastrophen zu erleben. Die meisten Menschen sind längst bereit für einen neuen Gesellschaftsvertrag, eine neue, zeitgemäße Priorisierung.

Wir alle können etwas dazu beitragen: als Konsumenten, die sich vor dem Autokauf überlegen, was die Menschen in fünfzig Jahren dazu sagen würden. Als Unternehmen, die nachhaltige Mobilität unterstützen. Und als Gesellschaft, die das Wohl aller im Sinn hat und nicht bloß die Interessen einer kleinen Minderheit bedient. Lasst uns endlich so leben und handeln, wie es die Mehrheit der Menschen längst sinnvoll findet.

Ein Sackgassen-Schild mit dem Zusatz „Keine Wendemöglichkeit“.

Take-aways

  • Wir leben in einer Auto-Gesellschaft, die Automobilität über Klimaschutz, körperliche Unversehrtheit und gute Luftqualität stellt.
  • Das Geld, das jedes Jahr in Automobilität fließt, könnten wir stattdessen in die Bekämpfung der drängendsten globalen Probleme stecken: 500 Milliarden Euro mehr für die Bekämpfung von Armut und Klimakrise.
  • Gesellschaftsverträge ändern sich: Es wird Zeit für neue Prioritäten – Automobilität gehört nicht dazu.

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