Schöne Menschen sind erfolgreicher. Doch wer entscheidet eigentlich, was schön ist? Ein Essay über Normen, Wahrheit und Verletzlichkeit
Wenn man dem Autor Malcolm Gladwell glaubt, sind die männlichen CEOs der fünfhundert umsatzstärksten US-amerikanischen Unternehmen rund sieben Zentimeter größer als der Durchschnittsbürger.1Zahlreiche Studien belegen, dass wir große Männer für selbstbewusst und durchsetzungsstark halten, ihnen also Führungsqualitäten zusprechen.2Kein Wunder, dass es mittlerweile Anzugschuhe mit Plateau gibt, die Männer diskret um sieben Zentimeter größer machen. Vom Anbieter Faretti werden die Schuhe für Geschäftstreffen und Vorstellungsgespräche empfohlen.
Neben der Körpergröße spielen z.B. auch das Körpergewicht, die Proportionen, die Symmetrie im Gesicht, die Haut und die Haare einer Person eine Rolle dafür, ob wir sie attraktiv finden. Dieses Urteil fällen wir in der Regel in weniger als einer Sekunde. Um andere Dinge zu beurteilen, die berufliche Kompetenz etwa, brauchen wir deutlich länger – dies kann daher von unserer Attraktivitätseinschätzung verzerrt sein. Psycholog*innen nennen das Halo-Effekt: Wir schließen aus dem guten Aussehen, dass die Person auch andere gute Eigenschaften hat.3Das ist natürlich höchst ungerecht. Viele Forscher*innen betrachten Attraktivität deshalb als einen unterschätzten, aber starken Faktor für Ungleichheit in unserer Gesellschaft.4
Schöne Menschen werden häufiger zu Bewerbungsgesprächen eingeladen und setzen sich dort eher gegen andere Bewerber*innen durch.5Sie sind zufriedener und verdienen mehr als der Durchschnitt – gutaussehende Männer verdienen in Deutschland durchschnittlich 14 Prozent mehr als andere Männer, bei gutaussehenden Frauen sind es sogar 20 Prozent.6Bei so viel pretty privilege stellt sich die Frage: Wer entscheidet eigentlich, was schön ist? Und was passiert mit denen, die nicht dazugehören?


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Was wir als schön empfinden, entscheiden wir nicht vollkommen individuell. Schönheit und Hässlichkeit sind soziale Konstrukte, die von kulturellen, historischen und sozioökonomischen Faktoren beeinflusst werden. In ihrem Buch „Hässlichkeit“ erzählt Autorin Moshtari Hilal von Jacques Joseph, einem Mitbegründer der modernen plastischen Chirurgie, der zur Zeit des Nationalsozialismus vor allem große und gebogene Nasen operierte, die in der Rassenideologie der Nationalsozialisten als jüdisch galten. Heutzutage sind Nasen-OPs in Ländern wie dem Iran zum Routineeingriff geworden. Sechzig Prozent der Iraner*innen haben sich Eingriffen wie einer Nasen-OP unterzogen.7Eine junge Ärztin erklärt: „Die meisten Leute wollen aussehen wie amerikanische Superstars.“8Sie wollen die Abweichung von einem Ideal korrigieren: der westlichen Norm der kleinen, geraden Nase.
Diese Norm reicht weit zurück. Hilal skizziert in ihrem Buch, wie der niederländische Mediziner Petrus Camper im 18. Jahrhundert mithilfe von Vermessungslinien die Gesichtsproportionen von Menschen und Tieren berechnete und verglich. Die idealen Gesichtsproportionen haben laut Camper Europäer*innen, wohingegen die Gesichtsproportionen von Menschen aus Asien und Afrika eher Affen glichen würden. Solche rassistischen Verzerrungen von Schönheit und Hässlichkeit haben wir alle verinnerlicht und sie beeinflussen uns bis heute. Das sieht man beispielsweise an den Darstellungen von Schurken in Kindermärchen und Disneyfilmen: „Die Darstellungen von Bösewichten sind überwiegend rassistische, oft antisemitische Bilder. Meist haben sie dunklere Haut und Haare und größere Nasen. Die Guten dagegen sind häufig blond, haben im Vergleich hellere Haut und immer eine kleinere Nase“, sagt Hilal.9

Auch durch Werbung, soziale Medien und Darstellungen in Biologie- und Anatomiebüchern verinnerlichen wir schon früh Stereotype eines idealen Körpers – jung, weiß, ohne Behinderung, groß und natürlich: schlank. Im Märchen Schneewittchen informiert ein Spiegel darüber, wer gerade die Schönste im ganzen Land ist: „eine schöne Königstochter, die hatte eine Haut, so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz.“ In der Realität gibt es zwar keinen solchen magischen Spiegel. Doch die zugrunde liegenden Annahmen und Vorstellungen darüber, was als schön gilt und was nicht, sind nicht fiktiv. Sie prägen die Gesellschaft und damit unsere Organisationen. In einer Studie der Universität Tübingen kam z.B. heraus, dass selbst erfahrene Personaler*innen dicken Menschen keine Führungsqualitäten oder angesehene Berufe zutrauen. Das ist ein Problem.
Re-Learn Schönheit
Die Frage ist nun: Wie können wir dafür sorgen, dass Menschen, die ein (westliches) Schönheitsideal nicht erfüllen, nicht benachteiligt werden? Im Arbeitskontext lautet die einfache Antwort vieler Unternehmen, dass Bewerber*innen ihren Bewerbungen keine Fotos mehr beifügen sollen. Das führt zumindest dazu, dass attraktive Bewerber*innen bei den Einladungen zum Vorstellungsgespräch nicht bevorzugt werden. Aber reicht das wirklich aus? Wir müssen unsere Annahmen über Schönheit grundsätzlich hinterfragen; Schönheit also verlernen. Drei Denkanstöße:
1. Professionalität ist nur eine Idee
Hilal empfiehlt, auf die Begriffsgeschichte von Worten wie Ästhetik, Schönheit oder Professionalität zu verweisen. Das befreit sie von ihrem Anspruch auf Universalität. „Wenn wir wissen, woher Begriffe und Ideen kommen, dann können wir sie auch einordnen und abgrenzen vom eigenen Empfinden, den eigenen Erfahrungen oder sogar den eigenen Körpern, die womöglich im Widerspruch zu ihnen stehen. So verstanden, ist Hässlichkeit eine Idee, keine Wahrheit“, schreibt sie. Die Begriffe stehen in einem dynamischen sozialen Kontext. Zum Beispiel kann eine Mitarbeiterin mit vielen sichtbaren Tattoos und Piercings in manchen Kontexten als unprofessionell angesehen werden, obwohl diese Merkmale in anderen Kontexten als Ausdruck von Individualität und Kreativität gelten. Hinzu kommt, dass bestimmte Gruppen zusätzliche Arbeit leisten müssen, um als attraktiv oder professionell zu gelten. „Frauen müssen grundsätzlich mehr Schönheitsarbeit leisten als andere, um den Schein von Professionalität im Arbeitskontext aufrechtzuerhalten“, sagt Hilal. „Genauso wie Menschen, die anders sprechen, sich anders bewegen, oder eine Hautfarbe oder Haarstruktur haben, die von der Norm abweichen.“12
2. In Hässlichkeit steckt Hass
Während in einer Studie von 1986 nur sechs Prozent der befragten Führungskräfte angaben, dass die äußere Erscheinung beim Karrierestart eine wichtige Rolle spiele, waren es zwanzig Jahre später schon über dreißig Prozent. „Kein anderer Erfolgsfaktor ist in so einem Maß wichtiger geworden wie die äußere Erscheinung“, erklärt die Studienautorin Sonja Bischoff. Das korreliere mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, dass das Visuelle immer wichtiger werde.13Umso wichtiger, dass wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass in dem Wort Hässlichkeit auch das Wort Hass steckt. „Viele Menschen würden intuitiv sinnliche, angenehme Erfahrungen mit Schönheit gleichsetzen. Wir suchen die Nähe zu Schönheit“, sagt Hilal. „Von Hässlichkeit nehmen wir dagegen Abstand. Das schließt vermeintlich hässliche Menschen ein. Wir distanzieren uns von ihnen, schließen sie aus, trauen ihnen weniger zu.“
Diversity, Equity, Inclusion and Belonging
New Work Glossar3. Schönheit verändert sich
Ansehen aufgrund von Schönheit können wir jederzeit verlieren. Wir können einen Unfall haben oder einfach altern. Menschen mit Behinderung werden z.B. selten als schön beurteilt. Gleichzeitig nimmt die Wahrscheinlichkeit, schwerbehindert zu sein, mit zunehmendem Alter stark zu: Im Jahr 2021 waren circa ein Drittel der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und älter. Rund die Hälfte von ihnen gehörte der Altersgruppe von 55 bis 74 Jahren an. Und nur knapp 3 Prozent waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.14Wir alle könnten also in der Zukunft einen Körper entwickeln, dem unsere Gesellschaft mit Ablehnung begegnet. Die Frage ist: Welchen Umgang würden wir uns dann von unseren Mitmenschen und Kolleg*innen wünschen? Wie würde es sich anfühlen, wenn unsere Stärken und Fähigkeiten im Vergleich zu unseren Körpern in den Hintergrund rücken?
Ein Aufruf zur Versöhnung
Fest steht: Wir können nichts dagegen tun, mit verzerrten Vorstellungen über Schönheit und unerreichbaren Idealen aufgewachsen zu sein. Wir können aber versuchen, uns ihrer Konsequenzen im (Arbeits-)Leben bewusst zu werden, sie kritisch zu hinterfragen und mit neuen Gedanken zu überschreiben. Dabei sollten sich laut den Ergebnissen einer Studie der Stanford-Professor*innen Peter Belmi und Margaret Neale vor allem diejenigen angesprochen fühlen, die sich selbst als attraktiv empfinden. Denn das hat scheinbar nicht nur Auswirkungen auf das Selbstbild, sondern auch auf das Weltbild: Wer sich selbst attraktiv findet, akzeptiert eher soziale Ungleichheit.15
Disability Mainstreaming
NEW WORK GLOSSARHilal lädt in ihrem Buch dazu ein, sich mit dem zu konfrontieren, was an der Hässlichkeit Angst macht – uns mit dicken, alten und behinderten Körpern auseinanderzusetzen, mit Asymmetrie, Narben, Falten und dichter Körperbehaarung. Die Menschen um uns herum, unsere Freund*innen, Kolleg*innen oder Nachbar*innen, letztlich hat jede*r Körperregionen, die er*sie an manchen Tagen am liebsten verstecken würde – vor allem, wenn wir im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, Präsentationen halten, Kund*innen überzeugen müssen oder Gehaltsverhandlungen führen. Daraus sollten wir nicht schließen, dass wir wissen, wie es sich anfühlt einen Körper zu haben, der täglich den Blicken und Verurteilungen anderer ausgesetzt ist. Aber vielleicht kann es unsere Sensibilität trotzdem stärken. Die Versöhnung mit der Hässlichkeit ist ein Prozess, der Mut erfordert – und der uns durch Verletzlichkeit Intimität und Vertrauen lehren kann.

Take-aways
- Schöne Menschen haben in unserer (Arbeits-)Welt Vorteile. Sie sind erfolgreicher, zufriedener und verdienen mehr.
- Doch niemand ist von allein schön oder hässlich, man wird schön oder hässlich gemacht. Schönheit und Hässlichkeit sind gesellschaftliche Konzepte.
- Es wird Zeit, dass wir diese Konzepte aufbrechen, denn sie führen zu Ungerechtigkeit. Wir sollten Schönheit verlernen und uns mit dem konfrontieren, was uns an der Hässlichkeit Angst macht.
FUßNOTEN
- 1
Malcolm Gladwell: Blink: The Power of Thinking Without Thinking, Back Bay Books (2007) ↩
- 2
Timothy A. Judge, Daniel Cable: The Effect of Physical Height on Workplace Success and Income: Preliminary Test of a Theoretical Model (2004) ↩
- 3
Friederike Invernizzi: Was ist eigentlich schön? (2012) ↩
- 4
Matthias Hennies: Warum gutes Aussehen zu Ungerechtigkeiten führt (2024) ↩
- 5
Tomas Chamorro-Premuzic: It’s Time to Expose the Attractiveness Bias at Work (2019) ↩
- 6
- 7
Helena Ziboji: Mach mir ein Panther-Gesicht! (2021) ↩
- 8
Deutschlandfunk Nova: Die super Nasen (2014) ↩
- 9
Marlene Halser: „Ich schließe mich lieber der Seite der Hässlichen an“ (2023) ↩
- 10
Hier zeigt sich zusätzlich eine sexistische Dimension: Es ist schwer vorstellbar, dass es in Schneewittchen darum gehen könnte, wer der Schönste im ganzen Land ist. ↩
- 11
Universität Tübingen: Übergewicht bringt berufliche Nachteile (2012) ↩
- 12
Unser*e Autor*in Louka Goetzke hat dazu auch mal einen ganzen Artikel geschrieben: Warum manche mehr Geschlechterarbeit leisten müssen (2021) ↩
- 13
Haiko Tobias Prengel: Quasimodos machen seltener Karriere (2012) ↩
- 14
Statistisches Bundesamt: Statistik der schwerbehinderten Menschen (2021) ↩
- 15
Alltagsforschung: Wer sich attraktiv findet, akzeptiert Ungleichheit (2014) ↩