In unserer Arbeitswelt herrscht eine Monokultur. Wo es viel Geld zu verdienen, Macht und gute Karrieremöglichkeiten gibt, sitzen vor allem: Männer. Damit sich das ändert, gibt es diese Kolumne. Diesmal: Geschlecht ist Arbeit. Manche leisten mehr als andere und kommen trotzdem schlechter weg.
Wie viel Zeit hast du heute morgen im Bad verbracht? Und womit? Ich weiß es: Auf die ein oder andere Weise hast du Geschlecht hergestellt. Alle tun es, täglich. Haare kämmen, rasieren, zupfen, schminken oder nicht, in bestimmte Kleidung schlüpfen. Denn Geschlecht ist nichts, was wir einfach so sind. Wir müssen es tun, und zwar ständig.
Wie wir sprechen und lachen und was wir sagen, wie wir stehen, sitzen und uns bewegen, wie wir riechen, uns kleiden, unsere Haare oder Schmuck tragen – bei all dem geht es um Geschlecht. Auch wie wir schauen und beschaut werden, Geld und Tätigkeiten im Büro und zu Hause verteilen oder unsere Freizeit gestalten, stellt Geschlecht täglich her.
Diese aktive Herstellung von Geschlecht wird in der Geschlechtersoziologie mit dem Konzept Doing Gender beschrieben. 1 So wird Geschlecht nicht als feststehende Eigenschaft oder eindeutiges Merkmal eines Menschen verstanden, sondern als etwas, das wir gemeinsam tun. Dass wir als ein bestimmtes Geschlecht wahrgenommen werden, ergibt sich keineswegs von selbst. Es ist eine beachtliche Leistung.
Die Erfindung der wahren Natur
Im Alltag bleibt die oft unbemerkt. Die Geschlechter-Arbeit findet routiniert und zum Teil unbewusst statt. Mehr noch: Wir meinen, damit unser Geschlecht auszudrücken, also etwas zu tun, weil wir Frauen, Männer oder keins von beidem sind. Dabei stellen wir Geschlecht auf diese Weise überhaupt erst her.
Dieser Prozess ist im Ergebnis verschwunden. Die Unterscheidung in zwei Geschlechter wirkt natürlich; Aufteilungen in Männer- und Frauenkleidung, -toiletten, oder -berufe erscheinen als selbstverständliche Folge vermeintlich natürlicher Verschiedenheiten. Wir erschaffen Gegensätze und nutzen sie dann rückwirkend, um ihre Natürlichkeit zu betonen. Dabei verändert sich das, was als männlich oder weiblich gilt und welche Erwartungen an ein Geschlecht geknüpft sind, je nach Kontext, Ort und Epoche.
Täglich wird zweigeteilt
Um selbst als Mann oder Frau aufzutreten oder aber mit den Kategorien zu spielen oder sie von uns zu weisen, benötigen wir eine ganze Menge Wissen darüber, wie sich Männer und Frauen in unserer zweigeschlechtlichen Kultur kleiden und bewegen, wie sie intonieren und gestikulieren, Gefühle fühlen und zeigen, wer mit wem wann und wie spricht und wer wen wann wie und wie lange ansieht.
Danach handeln wir, machen uns selbst zu einem Geschlecht und ordnen auch andere ein. Wir interpretieren und prüfen deren Darstellungen, akzeptieren sie oder halten sie für unecht. Dabei erwarten wir, das Geschlecht eines Gegenübers unzweifelhaft als Mann oder Frau identifizieren zu können.
Ins Schleudern kommen
Ist dem nicht so, kommen wir gewaltig ins Schleudern. Wie empfindlich und irritiert wir reagieren, wenn das Geschlecht einer Person uneindeutig wirkt, zeigt, wie grundlegend und implizit dieses Alltagswissen ist. Scheitern wir daran, die Darstellung von Geschlecht eindeutig zu interpretieren, genieren wir uns. Unser eigenes – wohl schlechtes – Urteilsvermögen ist uns unangenehm.
Nach dem Geschlecht zu fragen, offenbart dieses vermeintliche Unvermögen. Lieber suchen wir verstohlen oder unverwandt und offensiv den Körper nach Merkmalen ab. Mit einer erstaunlichen detektivischen Energie wollen wir das wahre Geschlecht herausfinden – also eigentlich einen Blick in den Schlüpfer werfen und prüfen, wie es dort so aussieht und ob sich die Person auch entsprechend unserer daran geknüpften Erwartungen verhält. Deshalb werden Menschen, die nicht eindeutig lesbar sind, oft einer Täuschung bezichtigt, als verheimlichten sie eine Information, auf die alle ein Anrecht hätten.

Ungeschriebene Regeln
Wir alle arbeiten täglich daran, dass andere unser Geschlecht anerkennen und sind abhängig von dieser Anerkennung. Die Bedingungen, unter denen Menschen Geschlecht leisten, sind aber verschieden. Denn wir unterscheiden Geschlechter nicht nur, wir hierarchisieren sie auch.
Frauen und alle, die die Grenzen der Mann/Frau-Zweiteilung überschreiten, deren Körper als dick, rassifiziert, trans und/oder behindert gelten, müssen mehr leisten für das gleiche Ergebnis. Sie haben jeden Tag extra Arbeit mit gesellschaftlichen Erwartungen und damit, sich halbwegs sicher in der Welt zu bewegen. Diese Geschlechter-Arbeit ist komplexer und kostet mehr Ressourcen, mehr Zeit, Energie und Geld – für Körperpflege, Körper formen, kaschieren, betonen, Rhetoriktraining, Antizipieren und Vermeiden von gefährlichen Situationen, Navigieren von Belästigung, Fürsorgearbeit, Hormonbehandlung, Haarentfernung oder -glättung, ...2
Klar, auch Men’s-Health-Männer müssen Erwartungen an ihr Aussehen entsprechen. Das ist aber nicht so komplex, teuer und zeitaufwendig. Und weichen Männer davon ab, wirkt sich das nicht gleich auf ihr Gehalt aus, oder ob ihnen mit Respekt begegnet wird. Investieren Frauen beispielsweise nicht genug in ihre Schönheit und Körperpflege, werden sie schlechter bezahlt.3 Sie verdienen im Schnitt nicht nur 20 Prozent weniger, bei ihnen wird auch noch mehr als bei Männern von ihrer Erscheinung auf ihre Qualifikation und Kompetenz geschlossen. Zu gestylt dürfen sie aber auch nicht sein, sonst werden sie als unqualifiziert angesehen.4 Ein täglicher Balanceakt also, bei dem es nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt.

Nicht einzuteilen ist auch eine Leistung
Natürlich muss sich niemand diesen Normen vollständig, immer oder überhaupt beugen. Niemand steht mit am Kleiderschrank und bestimmt, was wir tragen, oder welche Hobbies wir pflegen, wer die Hausarbeit erledigt und wie viel wir uns um andere kümmern. Wir können uns von Geschlecht aber nicht einfach so verabschieden. Das liegt zum einen daran, dass es honoriert wird, wenn wir uns an die herrschenden Konventionen halten, und abgestraft, wenn nicht. Männliche Frauen, weibliche Männer, Personen, die Geschlecht nicht eindeutig zuordenbar darstellen erfahren Abwertung.
Es liegt aber auch daran, dass wir gelernt haben, dass unser Geschlecht und die Zweiteilung etwas Natürliches und Statisches sind. Geschlecht aber ist von Natur aus eine soziale Sache. Wir stellen es selbst her, indem wie wir es auf eine bestimmte Weise darstellen und andere wahrnehmen, indem wir unbewusst Geschlechtervorstellungen folgen – und genauso, wenn wir an ihnen kratzen. Das heißt aber auch: Wir können die Grenzen von dem, was möglich ist, verschieben.
Die meisten von uns denken, sie behandelten Menschen gleich, unabhängig von ihrem Geschlecht. Das ist nicht nur Quatsch, diese Fantasie hält auch den Status Quo aufrecht. Wir können mehr verändern, wenn wir uns damit beschäftigen, wann wir unterschiedliche Maßstäbe für Kompetenz anwenden und beispielsweise einen Mann als durchsetzungsstark, aber eine Frau bei gleichem Verhalten als verbissen und zickig wahrnehmen. Und wenn wir, wenn es uns das nächste Mal wieder unter den Nägeln brennt, das Geschlecht des Gegenübers herauszufinden, unsere starren Kategorien ins Wanken kommen lassen. Unsere eigene Verwirrung, Verunsicherung und auch Empörung wahrzunehmen ist der erste Schritt, damit Geschlecht eines Tages weniger Arbeit ist.

Takeaways
- Geschlecht ist täglich eine Leistung: Wir inszenieren uns als ein Geschlecht und interpretieren die Darstellung anderer – basierend auf unserem Wissen darum, was als männlich und weiblich gilt.
- Dabei unterscheiden wir Geschlechter nicht nur, sondern hierarchisieren sie auch. Das verteilt Geschlechter-Arbeit ungleich.
- Wenn wir andere nicht einordnen können, sollten wir nicht Körper vermeintlich unauffällig nach Merkmalen absuchen, sondern unser eigenes Bedürfnis nach Eindeutigkeit befragen.
FUßNOTEN
- 1
Maßgeblich prägend und immer noch aktuell ist der Aufsatz „Doing Gender“ von Candace West und Don Zimmerman (1987). ↩
- 2
Mehr dazu in Bini Adamczak (2006): Theorie der polysexuellen Oekonomie (Grundrisse). ↩
- 3
Jaclyn S. Wong und Andrew M. Penner: „Gender and the returns to attractiveness“ (2016). ↩
- 4
Stefanie K. Johnson, Traci Sitzmann und Anh Thuy Nguyen: „Don’t hate me because I’m beautiful“ (2014). ↩