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Die Illustration zeigt zwei Hände beim gegenseitigen Händedruck. Aus der Ärmel der einen Person fallen einzelne Buchstaben.
Lese-Rechtschreib-Schwäche

So können Organisationen Menschen mit Legasthenie unterstützen

Menschen mit Legasthenie fällt das Lesen und Schreiben schwer. Als Mitarbeiter*innen werden sie deshalb oft nicht berücksichtigt. Doch Legastheniker*innen sind überdurchschnittlich kreativ und resilient. Organisationen sollten diese Stärken fördern.

Legasthenie1 ist eine Entwicklungsstörung, die auf einer Kombination von genetischen, neurologischen und Umweltfaktoren beruht. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Legasthenie vor allem ein Problem von Kindern, weil sie zumeist im Kindesalter diagnostiziert wird und oft eine prekäre Schulkarriere nach sich zieht.

Dabei lesen und schreiben viele der Betroffenen auch als Erwachsene langsamer als der Durchschnitt und können schriftliche Informationen nicht so schnell erfassen, organisieren und strukturieren. Einige finden es auch kompliziert, Zeitpläne zu erstellen, Aufgabenlisten abzuarbeiten oder komplexe Informationen zusammenzufassen – Fähigkeiten, die in vielen Jobs gebraucht werden.

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In vielen Jobs spielt schriftliche Kommunikation eine bedeutende Rolle. Auf Menschen, die sich damit schwertun, wird in kaum einem Arbeitskontext Rücksicht genommen. Schriftliche Fähigkeiten und Lesekompetenz gelten außerdem als ein Maßstab für Intelligenz, Bildung und gesellschaftlichen Erfolg.

Annette Höinghaus, freie Mitarbeiterin beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, sagt, dass viele Betroffene wegen schlechter Erfahrungen und Angst vor Diskriminierung ihre Legasthenie bei der Arbeit oder in der Ausbildung verschweigen.

Die Sorge ist begründet, wie das Beispiel einer Altenpflegerin zeigt, die ihren langjährigen Job verlor, als ihr neuer Chef von ihrer Legasthenie erfuhr. Man könne sich nicht sicher sein, ob sie die richtigen Medikamente verabreiche, weil sie angeblich die Etiketten nicht lesen könne. Dabei hatte die Frau ihren Job jahrzehntelang gut gemacht.

Viele Betroffene verschweigen ihre Legasthenie bei der Arbeit.

Menschen mit einer Legasthenie haben Anspruch auf passende Hilfsangebote, die ihnen die Arbeit erleichtern. Höinghaus vergleicht sie mit Brillenträger*innen: Während bei Legasthenie oft gesagt werde, Betroffene sollten doch einfach mehr üben, käme bei Brillenträger*innen niemand darauf, dass sie ihre Augen besser trainieren sollten.

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Wie können Organisationen Mitarbeiter*innen mit Legasthenie unterstützen?

1. Menschen mit einer Legasthenie einstellen

Betroffenen fällt der Berufseinstieg oft besonders schwer. In der Uni oder Berufsschule sind Schreib- und Lesefähigkeiten zentral. Im schlimmsten Fall bekommen Bewerber*innen ohne gute Rechtschreibung gar nicht erst einen Ausbildungsplatz, entweder weil ihre Schulabschlüsse schlecht sind oder weil sie Rechtschreibtests nicht bestehen. Höinghaus berichtet von einem Fall, in dem jemand wegen mangelhafter Rechtschreibung nicht bei der Feuerwehr angestellt wurde. Das ergibt wenig Sinn, schließlich ist Rechtschreibung im Berufsalltag der Feuerwehr kaum von Bedeutung.

Unternehmen können Menschen mit einer Legasthenie den Berufseinstieg erleichtern, indem sie sich im Einstellungsprozess bewusst machen, ob Lese- und Rechtschreibkompetenzen wirklich zentrale Fähigkeiten sind. Ist eine Legasthenie tatsächlich ein Hindernis, um die Aufgaben und Rollen zu erfüllen, die im Job gebraucht werden?

Dieses Wissen können Organisationen sogar explizit nutzen: Der Finanzdienstleister paigo (inzwischen Riverty Services GmbH) hat 2021 eine Stellenanzeige mit der Überschrift „Niemnd ist Perfkt“ geschaltet und einen Job angeboten, der „unabhägnig von der Lese- Rechtschreib- oder Rechenschwäche“ gut erfüllt werden kann. In Zeiten von Fachkräftemangel haben sie mit dieser Stellenanzeige mehr Bewerbungen als sonst bekommen.

2. Individuelle Strategien finden

Hönighaus empfiehlt, Mitarbeiter*innen, die Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung oder dem Lesen haben, gezielt in einem Zweiergespräch darauf anzusprechen, um sie individuell zu unterstützen.

Das Thema kann für Betroffene sehr sensibel sein, deswegen sollte erstens klargestellt werden, dass eine Legasthenie kein Grund für eine schlechte Leistungsbeurteilung ist, und zweitens dem*der Betroffenen selbst die Entscheidung überlassen werden, wer wann und ob überhaupt von dem Thema erfährt. Die wichtigsten Fragen sind: Wie können wir dich unterstützen? Was brauchst du, um deine Arbeit gut machen zu können? Was hat dir in der Vergangenheit geholfen, mit der Legasthenie umzugehen?

Darauf aufbauend können individuelle Lösungen gefunden werden: Während sich einige Betroffene mehr Zeit für Papierkram wünschen, möchten andere einen Nachteilsausgleich für Prüfungssituationen haben oder die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, weil dort weniger Ablenkung besteht. Höinghaus erzählt, dass eine Tischlerei ihrem Lehrling eine spezialisierte Legasthenietherapie bezahlt habe, damit er seine Berufsschulprüfungen besser besteht.

Eine Person besteigt einen Berg aus Buchstaben und wird von einer anderen Person die am Fuß des Berges steht dabei angefeuert.

3. Digitalisierung für alle ermöglichen

Besonders nützlich ist für einen Großteil der Betroffenen die Einführung von technischen Hilfsmitteln. Neben der gängigen Rechtschreibprüfung oder Vorlesefunktion gibt es auch spezielle Hilfsmittel: Die Polizei von Hampshire in England beispielsweise unterstützt Polizeibeamte mit Legasthenie, indem sie ihnen farbige Overlay-Bildschirme und intelligente Stifte, die Audio aufzeichnen und digitalisieren können, bereitstellt.2

Idealerweise sollten die bestehenden Hilfsangebote im Onboarding vorgestellt werden, und zwar für alle. Erstens wird dadurch der direkte Outing-Zwang für Menschen mit Legasthenie geringer und zweitens kommen diese Angebote allen zugute: Auch jemand ohne Legasthenie möchte die erschöpften Augen am Nachmittag vielleicht einmal schließen und sich den Text lieber vorlesen lassen. Eine Vielfalt an digitalen Hilfsangeboten erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass alle Mitarbeiter*innen ihren Bedürfnissen entsprechend arbeiten können.

Da Menschen mit Legasthenie Texte unter Umständen lieber diktieren als schreiben, sollten Unternehmen mit Großraumbüros Homeoffice oder mindestens eine Rückzugsecke anbieten.

Ein Bildschirm voller Buchstaben, die kreuz und quer stehen. Vom Fenster führen zwei gestrichelte Linien weg, die eine zu einem Lautsprechersymbol, die andere zu einem Mikrofon.

4. Informationen barrierearm bereitstellen

Was ebenfalls allen hilft, ist eine klare Sprache in Dokumentationen und der täglichen schriftlichen Kommunikation – mit möglichst wenigen Fachbegriffen oder langen Wörtern. Auch die grafische Gestaltung hat Einfluss auf die Lesbarkeit von Texten. Wichtige Informationen und Anleitungen können zusätzlich in kleinen Videos zur Verfügung gestellt werden.

So optimierst du Texte optisch für Lesbarkeit

  • Setze den Text linksbündig, in nicht zu breiten Absätzen (am besten zweispaltig) und mit großem Zeilenabstand (1,5)
  • Verwende eine einfache Sans-Serif-Schrift wie Arial oder Helvetica. Es gibt auch die kostenlose Schriftart Atkinson Hyperlegible, die speziell für Menschen mit Sehbeeinträchtigung entwickelt wurde
  • Stelle komplexe Informationen am besten visuell dar, durch Graphen, Grafiken, etc.
  • Drucke in schwarzer Schrift auf mattem, nicht zu weißem Papier
  • Wenn du Farben verwendest, sollten sie nicht zu kräftig sein (sondern bspw. Pastellfarben)
  • Vermeide unterstrichenen oder kursivierten Text, denn er erschwert es Legastheniker*innen, die einzelnen Wörter zu dechiffrieren
  • Nutze weniger Großbuchstaben, da sie die Buchstaben miteinander verschmelzen lassen

5. Auf Stärken fokussieren

Stärkenorientiertes Arbeiten ist zum Glück inzwischen die zeitgemäße Führungsmethode, für Menschen mit Legasthenie ist es jedoch besonders wichtig. Viele von ihnen haben ein gutes Durchhaltevermögen und eine hohe Toleranzschwelle für Niederlagen, weil sie im Schulalter immer wieder mit Schwierigkeiten konfrontiert waren.

Sie haben gelernt, flexibel und kreativ zu sein, um ihre Lese- und Rechtschreibschwächen strategisch auszugleichen, und können diese Fähigkeiten einsetzen, um Organisationsprobleme mit Ausdauer und auf unkonventionellen Wegen zu lösen.3 Manche Menschen mit Legasthenie sind besonders gut in verbaler Kommunikation, weil sie dadurch schon immer ihre schriftlichen Schwächen ausgeglichen haben. Das macht sie beispielsweise zu guten Sales-Personen und charismatischen Facilitator*innen. Stärken können u.a. mit dem VIA-Stärkenmodell erfasst werden.

Eine handgeschriebene Liste mit Stärken und Erfolgen, die einige Rechtschreibfehler enthält

Und was können Menschen mit einer Legasthenie selbst tun?

Betroffenen selbst empfiehlt Höinghaus – auch wenn es schwerfällt –, möglichst früh im Job über die Legasthenie zu sprechen, sofern sie in der beruflichen Tätigkeit auffällt. Als Vorbereitung für diesen Schritt hilft es ebenfalls, sich der eigenen Stärken bewusst zu werden. Dafür kann beispielsweise eine Liste mit persönlichen Stärken und Erfolgen angelegt werden.

Rechtlicher Schutz und Unterstützungsangebote für Menschen mit einer Legasthenie sind im Schnitt deutlich besser, wenn der*die Arbeitgeber*in Bescheid weiß. Ein offener Umgang mit der eigenen Legasthenie kann auch die Chancen auf eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle erhöhen, weil dadurch z. B. schlechte Schulnoten erklärt werden.4

Natürlich muss nicht jede*r zum*zur Advokat*in der eigenen Legasthenie werden. Doch ein offener Umgang damit kann helfen, mehr Menschen über das Thema aufzuklären und so die gesellschaftliche Stigmatisierung abzubauen.

Take-aways

  • Legasthenie ist eine Entwicklungsstörung, die auf einer Kombination von genetischen, neurologischen und Umweltfaktoren beruht. Das heißt: Kinder mit Legasthenie werden zu Erwachsenen mit Legasthenie.
  • Legasthenie kann im Berufsalltag zu Schwierigkeiten führen, die aber ausgeglichen werden können, z.B. durch digitale Unterstützung, einfache Sprache und einen Fokus auf persönliche Stärken.
  • Indem im Arbeitskontext offener über Legasthenie gesprochen wird, können bestehende Stigmatisierungen abgebaut werden.

FUßNOTEN

  • 1

    Der Begriff Legasthenie wird synonym zum internationalen Begriff Dyslexie und Lese- und Rechtschreibstörung gebraucht.

  • 2
  • 3

    Angeblich haben überdurchschnittlich viele Gründer*innen und Menschen in hohen Unternehmenspositionen Legasthenie, darunter Bodo Ramelow und Bill Gates, Albert Einstein und Steve Jobs, Agatha Christie wahrscheinlich auch.

  • 4

    Der Bundesverband für Dyskalkulie und Legasthenie bietet Mitgliedern ein Bewerbungsbeiblatt an, das helfen kann, demder Arbeitgeberin aufzuzeigen, dass eine Legasthenie keine Einschränkung in der fachlichen Kompetenz darstellt.

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