In diesem Guide erfährst du, wie das Konsent-Prinzip Meetings effizienter macht, Entscheidungsprozesse klarer gestaltet und Eigenverantwortung in Organisationen stärkt.
Stell’ dir vor, du bist in einem Meeting und es steht ein großes Thema zur Entscheidung: die Einführung flexibler Arbeitszeiten. Die Diskussion beginnt und eine Führungskraft möchte feste Bürozeiten beibehalten, während eine Kollegin erklärt, warum sie mehr Flexibilität benötigt. Du betonst, dass du auch von zu Hause aus arbeiten möchtest, und ein anderer Kollege wirft ein, dass ihr in dem Fall neue Regeln für die Zusammenarbeit bräuchtet. Mehrere Diskussionsstränge laufen parallel, jede*r hat eine Meinung, und du fragst dich langsam, ob ihr nicht einfach alles beim Alten belassen solltet. Am Ende trefft ihr keine Entscheidung bezüglich der Arbeitszeiten – und setzt gefrustet in ein paar Wochen ein neues Meeting an, um wieder über dasselbe Thema zu diskutieren.
Wenn man Teams fragt, wie in ihrem Unternehmen Entscheidungen getroffen werden, kann das häufig niemand genau beantworten. In anderen Teams führt die Entscheidungskultur regelmäßig zu Frustration. Mal dürfen in einem Meeting alle ihre Meinung einbringen, aber letztlich entscheidet doch der*die Chef*in. Mal funktionieren Abstimmungen nach dem Mehrheitsentscheid, mal bleibt auch unklar, ob überhaupt eine Entscheidung gefallen ist („Was haben wir jetzt noch mal entschieden?“).
Wir haben Brigitta Buomberger gefragt, wie das Konsent-Prinzip bei diesem Problem helfen kann. Sie war 17 Jahre lang Institutionsleiterin bei einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung und hat dort vor einigen Jahren die Soziokratie implementiert – ein Organisationsmodell, das auf partizipativer Entscheidungsfindung basiert. Heute berät und begleitet sie als selbstständige Soziokratie-Expertin diverse Organisationen bei der Soziokratie-Implementierung. Buomberger leitet seit Januar 2022 das Soziokratie Zentrum Schweiz.
Nie wieder schlechte Meetings!
Abo + Geschenk holenDer Unterschied von Konsens und Konsent
Viele kennen Konsens-Entscheidungen, bei denen die Erwartungshaltung besteht, dass alle Anwesenden mit der Entscheidung einverstanden sind – also alle dem Vorschlag aktiv zustimmen. Das ist in manchen Fällen bestimmt auch sinnvoll. Manchmal führt der Konsens aber zu endlosen Diskussionen und das Ergebnis ist trotz der investierten Zeit nur ein halbgarer Kompromiss, mit dem niemand so richtig glücklich ist.
Der Konsent hingegen funktioniert anders. Der Begriff kommt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt „Zustimmung“. Es geht nicht darum, dass jede*r vollends begeistert ist, sondern dass niemand einen schwerwiegenden und begründeten Einwand hat. Die zentrale Frage dabei ist: Hilft uns der gewählte Ansatz, einen Schritt auf dem Weg zu unserem gemeinsamen Ziel weiterzukommen? Wenn niemand einen schwerwiegenden Einwand hat, gilt die Entscheidung als getroffen. So ein Vorgehen ergibt vor allem dann Sinn, wenn es um einen Grundsatzentscheid geht oder möglichst schnell eine möglichst gute Entscheidung getroffen werden soll, um weiterzukommen.
Wann Konsent-Entscheidungen passend und hilfreich sind
Konsent-Entscheidungen lassen sich auch erfolgreich umsetzen, wenn das Unternehmen nicht durchgängig soziokratisch arbeitet. Sie können in nahezu jedem Kontext angewendet werden – ob im Bildungs- oder Gesundheitswesen, in kirchlichen Organisationen, in Kulturhäusern, in kleinen und mittelständischen Unternehmen oder in Konzernen. Besonders hilfreich ist der Konsent-Entscheid bei Themen, die langfristige Auswirkungen auf die Gruppe haben oder bei denen es wichtig ist, dass alle Beteiligten die Entscheidung aktiv mittragen. Dazu gehören strategische oder strukturgebende Entscheidungen wie die Definition von Arbeitsrollen, das Priorisieren von Projekten oder das Festlegen von Leitlinien zur Zusammenarbeit.
Teams, die den Konsent-Entscheid ausprobieren möchten, können dies in klar abgegrenzten Bereichen testen – etwa beim Festlegen von Budgets, dem Einführen eines neuen Kommunikationswerkzeugs oder der Planung von Veranstaltungen. Wichtig ist, dass möglichst viele Informationen im Vorfeld gesammelt werden und klar ist, worüber genau diskutiert wird. Das Warum hinter der Entscheidung sollte von der Person, die den Prozess anstößt, deutlich formuliert sein, damit alle Beteiligten verstehen, warum genau ein Konsent-Entscheidungsprozess durchgeführt wird.
Wie ein Konsent-Entscheidungsprozess Schritt für Schritt abläuft
Der Entscheidungsprozess beginnt mit der Frage: Um was geht es eigentlich? Auf welche Frage möchten wir eine Antwort finden oder für welche Herausforderung brauchen wir eine Lösung? In unserem Beispiel wäre das Thema also:
Tagesordnungspunkt:
Wie können wir Arbeitszeiten so gestalten, dass sie bei Bedarf flexibel genutzt werden können?
Ziel ist hier erst einmal, den Vorschlag zu konkretisieren und für alle verständlich zu machen. Dafür sollte der*die Themeneinbringer*in möglichst viele Informationen bereits im Vorfeld zu möglichen Fragen zusammentragen:
- Was verstehen wir unter flexiblen Arbeitszeiten? Welche Optionen gibt es für die Ausgestaltung der Flexibilität (z.B. Gleitzeit, Homeoffice, flexible Wochenstunden)?
- Wie oft wollen wir im Büro präsent sein? Gibt es feste Kernzeiten?
- Wie wird die Arbeitszeit erfasst oder kontrolliert? Gibt es ein Trackingsystem?
- Gibt es Teams oder Positionen, für die flexible Arbeitszeiten schwieriger umsetzbar sind?
Ein zentrales Element ist das Sprechen in Runden. Alle tragen also nacheinander einen Wortbeitrag vor.
In der ersten Runde geht es nur darum, Verständnisfragen zu stellen. Jede*r sollte sich fragen: Welche Informationen brauche ich noch, damit ich mir eine Meinung bilden kann? Habe ich Informationen, die für andere Teilnehmende wichtig sind?
Bei herkömmlichen Meetings stellen sich diese Fragen oft erst zu einem späteren Zeitpunkt. Oder bloße Verständnisfragen („Was ist mit X gemeint?“) werden mit Reaktionen („Dann muss aber jemand kontrollieren, dass alle auch ihre Stunden machen und nicht faulenzen.“) vermischt. Dann wird losdiskutiert, obwohl noch nicht alle relevanten Informationen beisammen sind. In der ersten Runde sollten keine Reaktionen in die Fragen gepackt werden. „Wenn noch wichtige Informationen fehlen, würde ich die Entscheidung um eine Woche verschieben und z.B. einen Hilfskreis gründen, der die Informationslücke schließt“, sagt Buomberger.
Wenn alle Informationen beisammen sind, folgt die Meinungsbildung. Dafür gibt es zwei Meinungsrunden:
In der ersten Runde bringt jede*r die eigene Sichtweise ein. Durch das strukturierte Vorgehen – das Sprechen in Runden und schriftliche Festhalten aller Argumente – entsteht eine Art Entschleunigung, die es ermöglicht, wirklich zuzuhören und verschiedene Argumente wirken zu lassen. Oft verändern sich die Meinungen der Teilnehmenden in der zweiten Runde, weil sie durch die erste Runde neue Einsichten gewonnen haben.
- Schließlich fasst der*die Moderator*in die Argumente zusammen und formuliert einen Vorschlag zum Konsent.
Jetzt kommt der Moment der Einwandabfrage: Kann ich mit diesem Vorschlag leben? Kann ich ihn mittragen oder habe ich einen schwerwiegenden und begründeten Einwand?
Wie ihr mit Einwänden umgehen könnt
Einwände sind ein zentraler Bestandteil des Konsent-Prinzips. Einen Einwand zu haben, bedeutet nicht, sich grundsätzlich gegen die Entscheidung zu stellen. Er ist auch kein Veto. Im Gegenteil, er trägt vielmehr dazu bei, die Lösung zu verbessern. Er klingt zum Beispiel so: „Ich habe Bedenken, dass die Erreichbarkeit im Team leidet, wenn alle zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten.“ Wenn jemand einen Einwand hat, bedeutet das, dass etwas noch nicht stimmig ist. Der*die Moderator*in sollte sich bei der Person bedanken, dass sie ihren Einwand einbringt, und fragen: „Wie könnte der Vorschlag geändert werden, damit du den Konsent erteilst?“ So ist gesichert, dass das Gespräch konstruktiv bleibt.
„Es ist zentral für das Gelingen der Methode, dass Menschen sich trauen, ihre Bedenken zu äußern – und zwar während des Prozesses und nicht erst später in der Kaffeepause“, sagt Buomberger. Manche Menschen würden sich ihr zufolge anfangs nicht trauen, Einwände zu äußern. Dass dies aber gewünscht und sinnvoll ist, müsse von der*m Moderator*in ganz klar adressiert werden: „Schwerwiegende Einwände sind positiv und willkommen.
Für viele Menschen entsteht anfangs der Druck, sofort wissen zu müssen, was richtig oder falsch ist. Dabei geht es vielmehr darum, eine persönliche Haltung zu entwickeln und diese zu formulieren.“ Nachdem ein Einwand formuliert wurde, unterstützt der*die Moderator*in die Person darin, einen Vorschlag zu entwickeln, wie die Entscheidung angepasst werden kann, um den Einwand zu integrieren. Der Prozess wiederholt sich, bis kein schwerwiegender Einwand mehr besteht und die Gruppe den Konsent erreicht. In unserem Beispiel könnte das die Festlegung von Kernarbeitszeiten sein.
Die Rolle der Moderation
Die Moderation spielt eine zentrale Rolle im Konsent-Entscheidungsprozess. Üblicherweise wird sie von einer Person ohne Führungsposition übernommen. Diese Trennung zwischen Chef*innen-Rolle und Moderation ist wichtig, da sie sicherstellt, dass die Moderation neutral bleibt und sich zuallererst auf den Prozess konzentriert, und erst sekundär um den Inhalt kümmert.
Die Moderation sollte sich eine gewisse Flexibilität und Offenheit beibehalten: Entscheidungsprozesse dauern oft länger oder kürzer als erwartet, und entwickeln sich oft anders, als zu Beginn vermutet. Die Moderation sollte sich von festen Erwartungen freimachen und flexibel auf Veränderungen reagieren können, wenn zum Beispiel eine Person in der ersten Runde eine völlig andere Meinung äußert als erwartet, oder die Gruppe in der zweiten Runde zu einem anderen Ergebnis kommt als ursprünglich vermutet.
In den meisten Gruppen gibt es Personen, die viel sprechen und vom Thema abschweifen, und Menschen, die es nicht gewohnt sind, ihre Meinung zu äußern. Der*die Moderator*in versucht, diesen Bias zu minimieren. Zusätzlich kann die Moderation entweder aktiv unterbrechen oder nachfragen: „Was soll ich genau aufschreiben?“ – und die Personen so einladen, sich zu äußern. Beides erfordert Feingefühl.
Auch wenn die Moderation etwas Übung erfordert, darf in der Soziokratie grundsätzlich jede*r die Rolle übernehmen. Der*die Moderator*in wird in einer offenen Wahl innerhalb des Kreises gewählt. Das ermutigt Menschen, diese Aufgabe auszuprobieren, auch wenn sie damit noch keine Erfahrung haben. Wir empfehlen aber, anfangs erst einmal mit etwas einfacheren Entscheidungen zu üben.
Das kann z.B. die Raumaufteilung bei Veranstaltungen sein, kleine Anpassungen an bestehenden Abläufen oder die Einführung eines neuen Meetingsformats für wöchentliche Updates.
Der Umgang mit Hürden
Führungspersonen müssen bereit sein, ihre bisherige Entscheidungsgewalt abzugeben und gemeinsam im Konsent mit der Gruppe zu entscheiden. Das fällt manchen schwer, besonders wenn sie tief im Prozess merken, dass sie doch glauben, am besten zu wissen, wie es laufen müsste. Aber genau da liegt der Schlüssel: Sie müssen loslassen und vertrauen, dass alle, die den Konsent gegeben haben, Verantwortung für die Entscheidung übernehmen.
Die Methode verlangt also auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst: Geht es mir nur darum, meine eigene Meinung durchzusetzen, oder kann ich mit innerer Offenheit zuhören? Außerdem muss die Bereitschaft vorhanden sein, Entscheidungsbefugnisse zu teilen. Hilfreich ist dabei, dass die getroffenen Entscheidungen nach einer vom Kreis bestimmten Dauer überprüft werden.
Eine weitere Herausforderung ist, dass das Sprechen in Runden für manche ungewohnt ist. Manche schätzen diese Struktur und Klarheit sofort, andere empfinden sie als starr. Hier lohnt sich Geduld. Menschen müssen Zeit bekommen, sich an die neue Methode zu gewöhnen. „Aus meiner Erfahrung legen sich viele Widerstände, wenn die Menschen erleben, dass Konsent-Entscheidungen tatsächlich zu Ergebnissen führen. Themen, die sonst immer wieder auf die Agenda gesetzt werden, können auf diese Weise endlich gelöst werden“, sagt Buomberger. Ein großer Vorteil sei zudem, dass wirklich jede*r der Reihe nach zu Wort kommt: „Viele Menschen sind es gar nicht gewohnt, dass ihre Meinungen und Ideen gleichwertig berücksichtigt werden, unabhängig davon, ob sie neu im Unternehmen oder schon lange dabei sind. Hierarchie hat in den Konsent-Runden keinen Platz mehr – es geht um die Überlegung und nicht um die Person dahinter.“
Wie der Konsent eure gesamte Organisation verändern kann
Die Verbindlichkeit bei Konsent-Entscheidungen ist viel höher, weil alle, die den Konsent gegeben haben, sich mitverantwortlich fühlen. Gleichzeitig stehen Konsent-Entscheidungen nicht für immer fest. Der Überprüfungszeitraum kann zum Beispiel auf drei Monate festgelegt sein. Danach wird die Entscheidung erneut bewertet. Das schafft Mut und Kreativität – plötzlich sind neue Lösungen möglich und können Experimentierfreude stärken, weil feststeht, dass diese nach einer bestimmten Zeit wieder überprüft werden. Dafür ist der Leitsatz „Good enough for now, safe enough to try“ zentral.
Ein weiterer Vorteil ist, dass sich der Fokus in Meetings viel konsequenter auf das gemeinsame Ziel richtet. Außerdem ist der gesamte Prozess sehr achtsam und sorgfältig, der Vorschlag zum Konsent wird z.B. schriftlich formuliert und festgehalten, was Klarheit schafft und Missverständnisse verhindert („Ach was, ich habe die Entscheidung völlig anders verstanden“).
Langfristig führt das Konsent-Prinzip oft zu einem Kulturwandel in der Organisation. Die Entscheidungsstruktur verändert sich, und dadurch ändert sich auch das Verhalten der Menschen. Nicht mehr das Ich steht im Vordergrund, sondern das Wir – also das gemeinsame Ziel. „Das kann der Beginn einer tiefgreifenden Transformation sein“, sagt Buomberger.
Zum Weiterlesen
- Barbara Strauch & Annewiek Reijmer: Soziokratie: Kreisstrukturen als Organisationsprinzip zur Stärkung der Mitverantwortung des Einzelnen (2018)
- Jef Cumps: Soziokratie 3.0 – Der Roman: Das volle Potenzial von Menschen und Organisationen freisetzen (2021)