Die Person, die uns am meisten kritisiert – das sind häufig wir selbst. Wenn wir ständig unzufrieden mit uns sind, können wir uns aber nicht gut um uns kümmern. Wie können wir lernen, besser mit uns selbst umzugehen?
Einstiegsübung
- Erinnere dich an eine Situation, in der es einem*einer Freund*in nicht gut ging – zum Beispiel, weil er*sie etwas falsch gemacht hat. Was hast du gesagt? Wie hast du es gesagt?
- Denke jetzt an eine Situation, in der du selbst mit etwas zu kämpfen hattest. Wie hast du mit dir gesprochen? Welche Wörter hast du benutzt?
Zu uns selbst sind wir fast immer strenger als zu anderen Menschen. Wenn wir einen Fehler machen, sehen wir die Schuld fast nur bei uns: „Wieso hab ich nicht besser aufgepasst? Immer passieren mir solche Sachen. Jetzt denken die anderen bestimmt schlecht von mir.“
Passiert aber die gleiche Sache einer Person, die uns nahe steht, sagen wir Dinge wie: „Sowas kann allen mal passieren. Deine Kolleg*innen wissen doch, was du kannst und bewerten dich nicht nach diesem einen Fehler.“
Die obige Übung zeigt: Anstatt uns aufzubauen, wenn es uns nicht gut geht, sind wir unzufrieden und kritisieren uns. Anstatt anzuerkennen, dass wir alle Fehler machen, grübeln wir immer weiter darüber nach und verlieren uns in unseren Gefühlen. Solch ein Verhalten entwickeln wir erstmals zum Beispiel, wenn unsere Eltern streng mit uns waren und uns kritisiert haben, wenn wir als Kinder von Freund*innen zurückgewiesen wurden oder wenn wir bei einer Sache, die uns wichtig war, gescheitert sind.
Eine Technik, die innere kritische Stimme leiser werden zu lassen, ist die Praxis des Selbstmitgefühls – viele benutzen auch den englischen Begriff Self Compassion. Das Konzept kommt ursprünglich aus der buddhistischen Philosophie. Es geht darum, nicht wertend, sondern freundlich mit uns zu sein – besonders, wenn es uns schlecht geht.
Selbstmitgefühl besteht aus drei Komponenten: Selbstfreundlichkeit, einem Gefühl für die gemeinsame menschliche Erfahrung und Achtsamkeit.
- Selbstfreundlichkeit: Anstatt uns selbst zu kritisieren und streng mit uns zu sein, gehen wir freundlich und verständnisvoll mit uns um. Wir fragen uns, was wir gerade brauchen und versuchen, uns das zu geben. Wenn uns das schwer fällt, können wir daran denken, wie wir mit guten Freund*innen reden.
- Gefühl für die gemeinsame menschliche Erfahrung: Anstatt uns einsam und isoliert zu fühlen, erkennen wir, dass wir unsere Erfahrungen mit anderen Menschen teilen. Wir erkennen an, dass auch Schmerz und Leid zum Leben dazugehören und dass Phasen, in denen es uns nicht gut geht, ganz normal sind. Dadurch fühlen wir uns weniger allein mit unseren Gefühlen.
- Achtsamkeit: Anstatt unsere Gefühle und Gedanken zu verdrängen oder uns in ihnen zu verlieren, nehmen wir sie mit achtsamer Akzeptanz an. Wir bewerten unsere Gefühle nicht, sondern lassen sie einfach da sein. Erst wenn wir wahrnehmen, dass wir gerade überfordert oder wütend sind, weil wir uns das Gefühl erlauben, können wir uns gut um uns kümmern.
Menschen mit mehr Selbstmitgefühl können Schmerz und Misserfolge besser aushalten, weil sie sich nicht zusätzlich selbst verurteilen, isoliert fühlen oder zu sehr in ihre Emotionen reinsteigern.
Für eine Studie zum Thema begleiteten Forschende 180 Menschen, die auf Jobsuche waren. 1 Die Experimentalgruppe machte zunächst eine Übung für mehr Selbstmitgefühl, die Kontrollgruppe sollte ohne weitere Hinweise über die Jobsuche schreiben und reflektieren. Die Menschen, die lernten, mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln, kritisierten sich weniger bei der Jobsuche als die Kontrollgruppe.
Wieso ist Achtsamkeit wichtig?
Zum New Work GlossarEine andere Studie aus dem Jahr 2007 2 hat untersucht, wie Studierende auf negatives Feedback reagieren. Diejenigen, die vorher gelernt hatten, mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln, hatten weniger negative Gefühle in Reaktion auf das Feedback.
Tina Baumgartner arbeitet als Trainerin, Beraterin und Moderatorin. Sie ist ausgebildete MSC-Trainerin und gibt unter anderem Kurse für mehr Selbstmitgefühl. MSC steht für Mindful Self-Compassion und ist ein Programm, das die amerikanischen Psycholog*innen Kristin Neff und Christopher Germer entwickelt haben.
„Wenn wir etwas falsch gemacht haben, verfallen wir oft in Scham“, sagt Baumgartner. „Wir denken dann nicht: Ich habe etwas Schlechtes gemacht, sondern: Ich bin schlecht.“ Viele würden dann versuchen, dieses Gefühl mit Leistung zu überdecken. „Es ist wichtig, die Leistung und das Selbstwertgefühl wieder zu entkoppeln“, sagt Baumgartner. „Egal, ob ich eine gute Leistung abliefere oder nicht: Ich bin ein toller Mensch.“
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Lange bevor Baumgartner anfing, Kurse für mehr Selbstmitgefühl zu geben, lernte sie, freundlicher zu sich selbst zu sein. Das half ihr auch beruflich: „Selbstmitgefühl bedeutet auch, nein zu sagen zu dem, was ich nicht will und das aufzubauen, was ich will“, sagt sie. „Ich bin heute weniger leistungsorientiert, aber produktiver, weil ich auf eine Art und Weise arbeite, die mir entspricht.“
Studien zeigen, dass uns Selbstmitgefühl dabei helfen kann, unsere Fähigkeiten zu verbessern und aus Fehlern zu lernen. Zum Beispiel fanden Kristin Neff und andere Wissenschaftler*innen heraus 3, dass Studierende mit mehr Selbstmitgefühl eine größere intrinsische Motivation hatten, zu lernen.
Eine andere Studie 4 untersuchte, wie sich Selbstmitgefühl in romantischen Beziehungen auswirkt. Diejenigen, die freundlicher zu sich selbst waren, waren eher bereit, zwischenmenschliche Fehler zu korrigieren und Probleme zu lösen. In einer dritten Studie 5 beschrieben Menschen Vorfälle, die sie bereuen. Diejenigen mit mehr Selbstmitgefühl hatten mit größerer Wahrscheinlichkeit ihr Verhalten danach verändert und sich persönlich weiterentwickelt. Die Studienautor*innen Jia Wei Zhang und Serena Chen nennen dafür zwei Gründe: Menschen mit mehr Selbstmitgefühl können eher akzeptieren, dass sie etwas falsch gemacht haben und dafür Verantwortung übernehmen. Und sie können sich eher vergeben.
Erste Schritte zu mehr Selbstmitgefühl
Mehr Selbstmitgefühl kann man lernen. Neff und Germer haben ein Übungsbuch geschrieben, das dabei helfen soll. Je nach Typ kann man mit dem Buch ähnlich weit kommen wie mit einem Training.
Eine Anfangsaufgabe ist die Selbstmitgefühlspause. Diese Übung kannst du immer wieder zwischendrin machen – zum Beispiel, wenn du gestresst bist oder dich nicht gut fühlst. „Es ist wichtig, die Übung nicht kognitiv zu machen“, sagt Baumgartner, „sondern wirklich in sich hineinzuspüren. Für viele ist es erst einmal schwierig, im lauten und hektischen Alltag innezuhalten und sich zu spüren.“
Übung: Selbstmitgefühls-Pause
Nimm dir für diese Übung etwas Zeit und gehe in Ruhe die fünf Schritte durch.
1. Achtsamkeit – Spüren, was da ist:
Denke an eine Situation in deinem Leben, die dir unangenehme Gefühle bereitet. Du hast dich gestritten, dein Job nimmt gerade zu viel Raum ein, dir macht die Doppelbelastung mit Kinderbetreuung und Home Office zu schaffen? Versuche, in deinem Körper nachzuspüren, was das mit dir macht.
2. Den Gefühlen einen Namen geben:
Benenne, was das für ein Gefühl ist oder wie es dir geht. Das ist Stress. Das ist Überforderung.
3. Gefühl für die gemeinsame menschliche Erfahrung:
Dann sage dir, dass du mit dieser Erfahrung nicht allein bist. Anderen geht es auch so. Solche Gefühle gehören zum Menschsein dazu.
4. Freundliche Berührung:
Berühre dich jetzt selbst in einer Art, die dir Geborgenheit gibt.
5. Selbstfreundlichkeit – sich selbst ein*e gute*r Freund*in sein:
Versuche, freundliche Worte für dich zu finden. Ich nehme mich so an, wie ich bin. Ich darf so sein. Ich versuche, mir Halt zu geben. Finde auch hier Worte, die für dich passen. „Das sind die Sätze, bei denen die Seele aufatmet“, sagt Baumgartner. „Es sind nicht für uns alle dieselben Sätze, das ist hoch individuell.“ Frage dich: Was brauche ich gerade? Was will ich gerade hören?
FUßNOTEN
- 1
Loes M. Kreemers et al. (2020): „Testing a Self-Compassion Intervention Among Job Seekers: Self-Compassion Beneficially Impacts Affect Through Reduced Self-Criticism“ in Frontiers in Psychology. ↩
- 2
Mark R. Leary et al. (2007): „Self-compassion and reactions to unpleasant self-relevant events: The implications of treating oneself kindly“ in Journal of Personality and Social Psychology. ↩
- 3
Kristin D. Neff et al. (2005): „Self-compassion, achievement goals, and coping with academic failure“ in Self and Identity. ↩
- 4
Levi R. Bakeret al. (2011): „Self-compassion and relationship maintenance: the moderating roles of conscientiousness and gender“ in Journal of Personality and Social Psychology. ↩
- 5
Jia Wei Zhang et al. (2016): „Self-compassion promotes personal improvement from regret experiences via acceptance“ in Personality and Social Psychology Bulletin. ↩