Fehler rufen oft heftige Gefühle wie Scham hervor. Diese haben bei der Arbeit in der Regel keinen Raum. Wir erklären, wie ihr Schamgefühle im Team besprechbar macht und bewusster mit Fehlern umgeht.
In vielen Organisationen werden Arbeitsfehler vertuscht oder geleugnet. Oft wird ein*e Schuldige*r gesucht, der*die den Fehler dann abstreitet oder wieder auf andere schiebt. Manchmal wird auch einfach so getan, als sei nichts passiert. Was bei alldem verdrängt und verschwiegen wird, ist das unangenehme Gefühl, das überhaupt erst zu diesen Ausweichmanövern führt: Scham.
Es ist kein Wunder, dass wir dieses Gefühl lieber unter den Tisch kehren. Zum einen ist es so komplex und tabuisiert, dass wir es oft gar nicht als Scham erkennen. Zum anderen werden Gefühle in vielen Unternehmen generell ignoriert oder als unpassend abgeschoben. Um auch im Team besser mit Schamgefühlen umzugehen, müssen wir erst einmal herausfinden, was Scham eigentlich ist.
Was ist Scham und was macht sie so unangenehm?
Schamgefühle entstehen, wenn wir in einer bestimmten Situation versagen und kritisiert werden oder uns selbst kritisieren. Etwa wenn wir die perfekte Präsentation abliefern wollen, uns dann aber mit den Folien vertun.
Wir schämen uns auch, wenn wir von den Normen und Werten in unserer Kultur abweichen und z.B. nicht den erwarteten Hochschulabschluss haben oder arbeitslos sind. Das Schamgefühl warnt uns: Vorsicht, wenn du so weitermachst, wirst du von deinem sozialen Umfeld ausgeschlossen!
Wir schenken dir eine Ausgabe von Neue Narrative!
zur Gratis-AusgabeScham ist deshalb so unangenehm, weil sie eine Verletzung unserer Urbedürfnisse nach Wertschätzung und Zugehörigkeit spiegelt. Sie triggert unsere evolutionär begründete Angst vor Isolation und Einsamkeit. Insofern kann Scham auch nützlich sein, denn sie zeigt uns, wo unsere Grenzen liegen – und die anderer Menschen – und wo wir unser Verhalten ändern sollten. Wir schämen uns auch, wenn wir eine Diskrepanz sehen zwischen der Person, die wir sein wollen, und dem, was wir getan haben.
Greift mein*e Chef*in etwa eine*n Kollegen*in an und ich schalte mich aus Angst vor persönlichen Nachteilen nicht ein, obwohl mir Solidarität eigentlich wichtig ist, dann schäme ich mich dafür, den*die Kolleg*in hängen gelassen zu haben. Scham ist also eine entwicklungsfördernde Emotion, die uns zeigt, wenn wir unser Verhalten ändern sollten.

Zu viel Scham kann allerdings lähmen und uns unproduktiv und unglücklich machen. Diese Ambivalenz der Scham lässt sich sogar physiologisch messen: Wenn wir uns schämen, sind unser Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig am Werk, das heißt, wir sind extrem aktiv und passiv zugleich. Das erklärt, warum wir gleichzeitig erröten und schwitzen, während unser Körper zusammensackt.1
Die Hirnforscherin Naomi Eisenberger hat zudem herausgefunden, dass das Gehirn soziale Ausgrenzung ähnlich bewertet wie körperlichen Schmerz.2 Um dieser Stresssituation zu entkommen, greift das vegetative Nervensystem auf primitivere Muster unserer urzeitlichen Hirnstrukturen zurück und ersetzt die Scham durch leichter erträgliche Abwehrreaktionen wie Rückzug oder Wut.3
Das passiert beispielsweise, wenn sich der*die Chef*in insgeheim für einen verpatzten Auftrag schämt, dann aber vor versammelter Mannschaft den*die Praktikant*in anschreit. Diese Emotionsverschiebung mag kurzzeitig Erleichterung bringen, schadet aber unseren zwischenmenschlichen Verbindungen. Wie können wir sinnvoller mit Schamgefühlen umgehen?
Schamgefühle erkennen und benennen
Das Ungünstigste, was wir mit Scham machen können, ist, sie zu ignorieren oder zu verbergen, sagt Arbeits- und Organisationspsychologin Sarah Krückels. Denn damit isolieren wir uns von anderen Menschen und halten so die Scham lebendig.
Organisationen, die versuchen ein fehler- oder schamfreies Umfeld zu schaffen, erreichen damit eher das Gegenteil: Aussagen wie „Du brauchst dich doch nicht zu schämen“ führen dazu, dass wir Schamgefühle abwehren oder sie wie im Falle des*der cholerischen Vorgesetzten in destruktives Verhalten umlenken. Besser ist es, die Scham zu enttabuisieren und ihr Raum zu geben. Dann können wir andere Menschen an unserem Gefühl teilhaben lassen und ihnen die Chance geben, sich in uns einzufühlen.
Sobald wir das Schamgefühl aussprechen und benennen, wird es kleiner. Die Autorin Brené Brown betont in ihrem Schamratgeber I Thought It Was Just Me (But It Isn’t),4 wie wichtig es ist, unsere Scham zu verbalisieren. Nur so können wir uns wieder mit anderen Menschen verbinden. Statt bei einem Patzer reflexartig zu denken: „Ich bin der Fehler, und ich bin allein damit“, sollten wir offen sagen: „Ich habe das Projekt in den Sand gesetzt und schäme mich dafür.“ Die meisten Menschen haben das selbst schon erlebt und können sich einfühlen. Unser Urbedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Bindung ist wieder erfüllt und die Scham kann sich auflösen.
Um unser Schamgefühl zu benennen, müssen wir es zuerst wahrnehmen und einordnen. Dieser Prozess ist sehr individuell und erfordert Selbstreflexion. Die Fragen in der Infobox helfen dabei, dein eigenes Verhältnis zu Scham zu reflektieren.

Verletzlichkeit fördern
Damit wir Fehler und Scham eingestehen können, müssen wir nicht nur an uns selbst arbeiten, sondern brauchen auch einen Arbeitsort mit hoher psychologischer Sicherheit. Ihr stellt diese Sicherheit im Team unter anderem dadurch her, dass ihr offener über schambehaftete Dinge redet.
Dafür braucht ihr ein paar freiwillige Vorreiter, die bereit sind, sich vor den anderen verletzlich zu zeigen. Zum Beispiel, indem sie Fehler eingestehen oder darüber sprechen, womit sie gerade Schwierigkeiten haben. Das stärkste Vorbild liefern Menschen, die eine Führungsposition oder Einfluss in der Organisation haben. Wenn der*die Chef*in oder Gründer*in in der Teambesprechung laut reflektiert: „Ich habe die Situation falsch eingeschätzt“, trauen sich auch die anderen eher, verletzlich zu sein.
Weitere magische Sätze dieser Art sind: „Ich brauche Hilfe“, „Ich weiß nicht, wie das geht“ oder „Wir haben so ein Projekt noch nie gemacht, es wird sicher nicht alles auf Anhieb klappen.“ Wenn ihr dann noch ehrliches Interesse zeigt und bei allen Teammitgliedern proaktiv nach Bedenken fragt, schafft ihr eine Arbeitsumgebung, in der die Leute ihren Schutzpanzer abwerfen können und nicht mehr aus Scham mit wichtigen Gedanken hinterm Berg halten.
Reflexionsfragen
Üblicher Umgang mit Scham
Persönliche Ebene
- Schmollen / den Raum verlassen („Ich bin allein mit meiner Scham.“)
- Ausreden, Lügen („Ich war’s nicht!“) oder Schuldzuweisungen („Die aus der Buchhaltung waren das.“)
- Perfektionismus („Ich darf einfach nix mehr falsch machen.“)
- Zynismus, Pessimismus, negatives Denken („War eh klar, dass mein Projekt nichts wird.“, „Ich sitze hier ohnehin nur meine Zeit ab.“)
- Zorn, Wut, Gewalt (z.B. ein Kind, das auf dem Bolzplatz den Ball verschießt und aus Schamabwehr einem anderen ans Schienbein tritt)
Orga-Ebene
- Blaming und Suche nach Sündenbock („Wenn xy diese Mail nicht geschrieben hätte, …“)
- Negieren / Stigmatisieren des Gefühls („Du musst dich doch nicht schämen.“) oder kommentieren, dass jemand rot wird
- Bagatellisieren von beschämenden Situationen in toxisch positiven Events („Hey, lasst uns heute alle unsere Fehler ordentlich abfeiern!“)
- Bloßstellung und „nicht böse gemeintes“ Lächerlichmachen bei Fehlern in großer Runde („Ach, der*die Neue hat unser System noch nicht richtig drauf.“)
Gelungener Umgang mit Scham
Persönliche Ebene
- Persönliche Schamtrigger und Glaubenssätze identifizieren
- Schamgefühl durch achtsames Beobachten des eigenen Körpers erkennen
- Scham benennen und mit anderen teilen → empathische Verbindung herstellen
- Selbstmitgefühl üben und Glaubenssätzen andere Sätze gegenüberstellen („Ich bin schlecht.“ → „Ich fühle mich in diesem Moment schlecht.“ oder „Nur ich mache diesen Fehler.“ → „Ich bin damit nicht allein.“)
Orga-Ebene
- Fehler auf die Sachebene bringen („Was ist passiert?“ statt „Wer war das?“)
- Proaktives Erfragen von unangenehmen Gefühlen („Wie fühlt ihr euch nach dem Schlamassel gestern?“)
- Programmpunkt „unangenehme Emotionen“ in Retrospektiven / Reflexionsrunden
- Respektvoller und wertschätzender Umgang, wenn auf Fehler hingewiesen wird
- Besprechen schwerer schambehafteter Fehler zunächst in 1:1-Konversationen
Austauschmöglichkeiten für Emotionen im Team schaffen
Überlegt euch im Team, in welchem Format diese Unterhaltungen stattfinden sollen. Denkbar ist etwa ein regelmäßiger Emotions-Check-in, bei dem alle teilen dürfen, welche (unangenehmen) Gefühle sie bezüglich der Arbeit gerade haben. Um euer momentanes Sicherheitsgefühl einzuschätzen, startet das Meeting mit einer anonymen Umfrage, z.B. in Typeform: „Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie sicher fühlst du dich heute, Gefühle mit uns zu teilen?“ Am Ergebnis seht ihr, wie hoch die Bereitschaft zur Beteiligung ist. Manche wollen vielleicht weniger sagen, dafür aber zuhören. Auch das hilft, Scham abzubauen. Und so könnte ein Emotions-Check-in für ca. 8–10 Personen aussehen:
- Check-in: Anonyme Umfrage und kurze Runde, mit welchen Voraussetzungen jede*r heute da ist. (5 Min.)
- Eine Person startet und antwortet auf die Frage: „Wie fühlst du dich gerade bei der Arbeit?“
- Danach ist die nächste Person dran, die sich bereit fühlt, bis alle, die wollten, gesprochen haben. (40 Min.)
- Reaktionsrunde (optional): Wenn ihr möchtet, könnt ihr auf die angesprochenen Gefühle der anderen reagieren, ihnen Mitgefühl spenden oder Hilfe anbieten. (10 Min.)
- Check-out: Reflektiert gemeinsam, wie ihr euch nach der Runde fühlt. (5 Min.)
Ihr könnt auch an Teamtagen nach Workshops und Spaßaktivitäten einen Programmpunkt „Emotionen“ einbauen. Nach konkreten Fehlschlägen oder schwerwiegenden Entscheidungen in eurer Organisation könnt ihr ebenfalls emotionale Resonanzrunden einplanen.
Wenn ein Produkt unter den Erwartungen geblieben ist, ein Projekt gerade komplett schiefläuft oder ihr euch von einem Teammitglied getrennt habt, blickt in Retrospektiven zurück und integriert auch das Thema Gefühle. Setzt euch im Team zusammen und fragt in die Runde, welche Bedenken und Sorgen ihr habt. Wenn ihr euch in der großen Runde noch nicht sicher genug fühlt oder über sehr private Fehltritte sprechen wollt, übt Verletzlichkeit erst einmal im kleinen Rahmen mit maximal drei Personen, denen ihr vertraut.
Unterschiede und Privilegien mitdenken
Die Gefühle rund um Fehler und Versagen sind sehr persönlich und intim. Jeder Mensch bringt sein eigenes Paket an Reflexionsfähigkeit und Schamanfälligkeit mit. Drängt also niemanden dazu, sich zu äußern, wenn er*sie (noch) nicht möchte. Sobald ihr dogmatisch proklamiert „Wir haben jetzt eine Jeder-Fehler-kommt-auf-den-Tisch-Kultur und alle müssen heute bei der Fuck-Up Night etwas sagen“, tappt ihr wieder in die Beschuldigungsfalle und schafft Distanz statt Verbindung: Am Ende schämen sich die Leute auch noch dafür, dass sie ihre Scham nicht korrekt benannt haben.
Das Schamempfinden hängt auch vom Machtgefälle und den Privilegien innerhalb des Teams ab. Flinta*-Personen, BIPoc oder Menschen mit Behinderung haben beispielsweise meist ein aktiveres Schamgedächtnis, da sie häufiger beschämt und ausgegrenzt werden. Daher haben sie eventuell weniger Ressourcen, um beschämende Erfahrungen zu teilen. Benachteiligte Gruppen und Care-Personen haben häufig auch mehr zu verlieren, wenn sie sich verletzlich zeigen und Fehler zugeben, etwa weil sie weniger schnell einen neuen Job finden als privilegiertere Kolleg*innen. Auch ist ein diverses Team nicht automatisch für alle gleichermaßen psychologisch sicher. Sorgt also für Safe Spaces, in denen auch diejenigen gehört werden, die auf dem Fuck-Up Event eher schweigen würden.
Input-Geberin
FUßNOTEN
- 1
Stapf: „Darum schämen wir uns“ (2021). ↩
- 2
Eisenberger / Lieberman / Williams: „Does Rejection Hurt? An fMRI Study of Social Exclusion“ (2003). ↩
- 3
Stephan Marks: Scham. Die tabuisierte Emotion (Patmos Verlag, 2021), S. 79. ↩
- 4
Brené Brown: I Thought It Was Just Me (But It Isn’t) (Penguin Group, 2008), S. 67. ↩