Cultural Hacking ist eine Möglichkeit, um Organisationen durch kleine Hacks von innen zu verändern. Wir haben einen Baukasten zur Methode entworfen.
Das Internet ist voll von Lifehacks: Es gibt Anleitungen dafür, wie man einen Granatapfel entkernt, ohne danach gleich die Küche renovieren zu müssen, oder wie man Umklappklammern nutzt, um Kabelchaos in den Griff zu bekommen. Auf der anderen Seite gibt es die Vorstellung von Hacker*innen, die Kapuzenpullis tragen und versuchen, Computersysteme zum Einsturz zu bringen. Was haben diese beiden Begriffe eigentlich gemeinsam?
Das ist (Cultural) Hacking
Beim Hacking sucht ein*e Hacker*in nach Möglichkeiten, ein bestehendes System für seine*ihre eigenen Zwecke zu verwenden bzw. ein System in eine bestimmte Richtung zu verändern. Hacker*innen funktionieren Gegenstände um oder verändern Codes und Kulturen so, dass sie für sie passen.
Oft wird Bestehendes dabei in neue Zusammenhänge gesetzt, die eigentlich so nicht vorgesehen waren. Dann wird beispielsweise der digitale Kalender mit Erinnerungsfunktion zum Wecker umfunktioniert und absichtlich so gestellt, dass er mitten im langweiligen Meeting klingelt. Die Autorität des digitalen Kalenders stellt niemand im Büro infrage und der*die Hacker*in kann sofort das Meeting verlassen.1 Hacking von Nutzer*innen wird meistens genutzt, um die eigenen (Arbeits)alltagsprobleme zu lösen.
Wenn es bei Hacks jedoch um die Veränderungen von gesamten Unternehmenskulturen geht, spricht man von Cultural Hacking.

Wenn Nutzer*innen Organisationen mithilfe von Kunst hacken
Die Methoden des Cultural Hacking haben viel mit aktivistischer Kunst gemeinsam, in der bestehende Verhältnisse kritisiert werden. Dort wird mit den Mitteln der Umkehrung, der Verfremdung und der Dekontextualisierung gespielt. Oft wird auf Bestehendes zurückgegriffen, wie bei Collagen oder Montagen.
Dadurch zwingt Kunst Unternehmen zu Reaktionen und zu einem Überdenken ihrer Werte, Werbestrategien und -abbildungen. Der Pariser Künstler ZEVS ‚entführte‘ beispielsweise 2002 das aufgedruckte Model aus einem Lavazza-Werbeplakat. Die Aktion nannte er Visual Kidnapping. Er forderte 500.000 Euro Lösegeld von der Kaffeemarke.2 Und das Berliner Peng! Kollektiv nutzt Plakate und ein Kampagnenvideo, um Angestellte des Pharmaunternehmens BioNtech dazu aufzufordern, die Herstellungsanleitung für den Impfstoff zu leaken.3
Auch Nutzer*innen können durch ähnliche Methoden Unternehmen kritisieren und zu Veränderungen bewegen. Adbuster passten beispielsweise letztes Jahr in Leipzig die Werbeplakate der Lebensmittellieferapp Gorillas an: Statt „Lebensmittel geliefert in Minuten“ stand da „Gefeuert in Minuten“. So erhöhten sie die Aufmerksamkeit für schlechte Arbeitsbedingungen, willkürliche Entlassungen und fehlende Mitbestimmung bei dem Start-up. Die Adbustingkampagne konnte dazu beitragen, dass es zumindest in Berlin inzwischen einen gewählten Betriebsrat im Unternehmen gibt.
Auch Memes basieren auf den Hackingprinzipien von Dekontextualisierung und Rekontextualisierung. Durch kritische Memes kann beeinflusst werden, wie Menschen Politik, Verwaltung, Militär, Wirtschaft oder Kultur wahrnehmen.4 Die Verbreitung von Memes kann so als eine Art gemeinschaftliches Cultural Hacking verstanden werden, um Unternehmen von außen unter Druck zu setzen.
So wurden beispielsweise 2018 in Marokko mithilfe von Memes ein Ölkonzern, ein Mineralwasserhersteller und ein Lebensmittelkonzern kritisiert, weil sie sich staatsnah positionierten und Religion nutzten, um Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft zu legitimieren.5 Der Umsatz des Mineralwasserherstellers Sidi brach innerhalb eines halben Jahres um 88 Prozent ein und der Lebensmittelkonzern Danone hatte im Jahr 2018 Umsatzeinbußen von mehr als 178 Millionen Euro. Cultural Hacking führte zu echten Veränderungen: Die Kampagne führte sogar zum temporären Rücktritt des marokkanischen Ministers für Allgemeine Angelegenheiten und dazu, dass der Wettbewerbsrat wiederbelebt wurde.
Cultural Hacking von innen: Mitarbeiter*innen werden zu Hacker*innen
Mitarbeiter*innen von Organisationen können zu Hacker*innen werden. Sie kennen sich genau aus und wissen, an welcher Stelle Veränderungen nötig sind, welche Prozesse agiler gestaltet werden könnten und welche Kolleg*innen sofort dabei mitmachen würden.
Das Ziel dieses Hackings „von innen“ ist die Veränderung der Unternehmenskultur. Jeder Impuls innerhalb einer Organisation verändert graduell die bestehende Unternehmenskultur. Viele kleine Impulse zusammen bringen umfassende Veränderungen der Organisationskultur auf den Weg. Genau darauf bauen Cultural Hacker*innen: Sie versuchen, in Organisationen durch kleine Veränderungen etwas zu bewegen, was dann, nach und nach, für einen echten Wandel sorgt.
Wie die Kultur von Siemens Energy gehackt wurde
Theres Kolell und Mathes Schulz haben genau so begonnen: Als bei ihrem Arbeitgeber Siemens Energy 2017 ein neues digitales Tool eingeführt wurde, stellten sie bei einem Gespräch in der Kaffeeküche fest, dass das Tool zwar ausgerollt worden war, aber nur wenig genutzt wurde. Sowohl in Kolells, als auch in Schulz’ Abteilung blieb die Nutzung des neuen Tools hinter den Möglichkeiten zurück. Das frustrierte sie beide.
Obwohl weder Kolell noch Schulz in der IT tätig waren, fingen sie also von sich aus und ohne Auftrag an, für Kolleg*innen kleine IT-Sessions anzubieten. Ihr Ziel war ursprünglich nur, das neue Tool für alle leichter nutzbar zu machen. Um auf ihr Angebot aufmerksam zu machen, nutzten sie das interne Social Network von Siemens Energy. Schnell kamen neue Kolleg*innen hinzu. Offenbar hatten Kolell und Schulz ein Angebot geschaffen, das für viele Mitarbeiter*innen bei Siemens Energy relevant, aber von der Unternehmensführung nicht vorgesehen war.
Bald formte sich neben den IT-Sessions eine Gruppe von Kolleg*innen, die nicht mehr nur über digitale Tools nachdenken wollte, sondern sich die Frage stellte, welche Strukturen bei Siemens Energy noch verbessert werden könnten. Sie diskutierten über Themen wie strukturierte Meetings und veränderte Kommunikationsformen in der Organisation mit 400 Mitarbeiter*innen, bei der zu dem Zeitpunkt noch viele Hierarchien herrschten.
Von all dem wussten ihre Chefs übrigens erst einmal nichts. Die Gruppe schwamm wie eine Art U-Boot durch die Organisation. Erst später, nachdem sich eine Gruppe von Kolleg*innen gefunden hatte, die sich mit ihnen gemeinsam für eine neue Lern- und Austauschkultur einsetzen wollten, meldeten sich Kolell und Schulz offiziell beim Management von Siemens Energy.
Ihre Impulse wurden positiv aufgenommen. Sie bekamen den offiziellen Auftrag, die Mitarbeiter*innenversammlung umzugestalten: Aus der ehemaligen Frontalveranstaltung wurde plötzlich ein Barcamp – etwas, das vorher nicht vorstellbar gewesen wäre. Die Cultural Hacker*innen wollten ursprünglich Kolleg*innen dabei unterstützen, sich das neue digitale Arbeitstool leichter anzueignen, und stießen letztendlich einen Wandel an, der in der gesamten Organisation spürbar wurde.6
Cultural Hacking als Chance für Organisationen
Die Entstehung solcher Cultural-Hacking-Bewegungen ist nicht zu stoppen. Dafür sind Mitarbeiter*innen heute zu sehr daran interessiert, ihre Arbeit demokratisch, sinnerfüllt und werteorientiert zu gestalten. Für Unternehmen ist das eine Chance. Denn es bedeutet, dass sich die Mitarbeiter*innen für die Organisation einsetzen, obwohl es mit zusätzlichem Aufwand und Risiko verbunden ist.
Anstatt sie im Keim zu ersticken, sollten Organisationen diese Bewegungen also begrüßen und sich fragen, wie sie Menschen ermutigen können, kulturelle Veränderungen aus der Mitte des Unternehmens anzustoßen. Am wichtigsten ist dafür wohl, dass in Organisationen Freiräume bestehen bleiben, die von Mitarbeiter*innen gefüllt werden können. Also dass nicht jede Minute durchgetaktet ist und dass es Möglichkeiten gibt, selbst Vorschläge zu machen.
Sinnvoll wäre es zum Beispiel, dem*der Kolleg*in, der*die findet, dass die Meetings immer zu lange dauern, die Freiheit zu geben, selbst eine Lösung zu entwickeln: Zum Beispiel, dass die Agenda schon vor dem Meeting gefüllt wird. Dann geht im Meeting selbst keine Zeit verloren, in der alle ihre Punkte vortragen und sortieren. Wenn hingegen jede Lücke im System, die von Mitarbeiter*innen entdeckt wird, vom Management sofort als unbedeutend abgewehrt oder mit einer neuen Regel versehen wird, kann dort nichts Innovatives entstehen.
Dazu gehört auch eine größere Toleranz gegenüber Fehlern in der Organisation. In einem Unternehmen, das auf Fehler statt auf Perfektion setzt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass viel gehackt wird – einfach weil es nicht sanktioniert wird.
Ein Baukasten für Cultural Hacking
Cultural Hacking kann man planen. Nutze dafür unsere vier Schritte:
1. Mach dir deinen Wunsch klar
Werde dir darüber bewusst, was du verändern willst. Findest du einen bestimmten Prozess oder eine Gewohnheit bei der Arbeit unangenehm? Was fehlt in deiner Organisation (noch)? Wie wäre es besser?
Beispiel: Mich nervt, dass Meetings bei uns ständig überzogen werden. Ich würde mir wünschen, dass die Person, die das Meeting leitet, darauf achtet, dass wir pünktlich Schluss machen.
2. Finde den richtigen Ansatzpunkt
An welcher Stelle kannst du besonders gut ansetzen, um etwas zu verändern? Gibt es einen Moment oder eine Situation, in der du konkret ansetzen kannst?
Beispiel: In der wöchentlichen Redaktionssitzung ist meine Rolle wichtig. Hier kann ich bewusst ein Statement setzen.
3. Wähle deine Hacking-Methode
Was ist schon da? Kannst du bestehende Gegenstände oder Kulturen nutzen, um etwas Neues zu kreieren? Kannst du durch das Wegnehmen oder Hinzufügen etwas Grundlegendes ändern? Kannst du etwas in einen neuen Kontext setzen?
Beispiel: Wir machen zu Beginn jedes Meetings ohnehin immer eine Check-in-Runde. Diese kann ich nutzen, um anzukündigen, dass ich unzufrieden damit bin, dass wir immer überziehen.
4. Setze deinen Hack gezielt ein
Mach dir einen konkreten Durchführungsplan. Je präziser du formulieren kannst, wie du vorgehen willst, desto eher ziehst du deinen kleinen Hack durch.
Beispiel: Ich möchte ein Statement setzen und selbst pünktlich das Meeting verlassen. Ich kündige im Check-in an, dass ich unsere Meetings immer zu lang finde und dass ich heute pünktlich gehen möchte. Deshalb biete ich von mir aus an, während des Meetings regelmäßig darauf hinzuweisen, wie viel Zeit wir noch haben. Ich schaffe ohne Absprache die neue Rolle des*der Timekeeper*in. Außerdem lasse ich zur geplanten Endzeit des Meetings für alle hörbar einen Wecker klingeln und verkünde deutlich, dass das Meeting für heute vorbei sein sollte. Vermutlich muss ich dieses Vorgehen mehrmals wiederholen, damit die Meetingmoderator*in seine*ihre Zeitplanung anpasst.
Take aways
- Alle Formen des Hacking basieren darauf, Vorhandenes umzudeuten und zu verändern.
- Von Cultural Hacking spricht man, wenn Mitarbeiter*innen oder Nutzer*innen Impulse setzen, um die Kultur von Organisationen zu verändern.
- Organisationen sollten diese Einmischung fördern, anstatt sie zu unterbinden. Daraus können Innovationen entstehen.
FUßNOTEN
- 1
Natürlich ist das kein Hack, den wir von NN empfehlen, aber wir haben gehört, dass Menschen das echt machen. ↩
- 2
Die Summe von 500.000 Euro repräsentiert für ZEVS den symbolischen Preis einer Werbekampagne dieser Größe. Hier ein Artikel des Spiegel zur Aktion. ↩
- 3
Die Seite des Peng! Kollektiv zur Kampagne ↩
- 4
Lydia Jakobi und Tobias Barth, „Ironische Filme machen Politik“, Deutschlandfunk, 20.09.2021. ↩
- 5
Ben Moussa, Mohamed, Sanaa Benmessaoud, & Aziz Douai, „Internet Memes as “Tactical” Social Action: A Multimodal Critical Discourse Analysis Approach”, International Journal of Communication, 2020. ↩
- 6
Nachzuhören ist die ganze Geschichte im Podcast Kluges aus der Mitte von Sabine und Alexander Kluge. ↩