Eigentlich fokussieren wir uns eher auf die halb vollen als auf die halb leeren Gläser. Doch manche Dinge machen uns so wütend, dass es gar nicht so leicht ist, konstruktiv zu bleiben. Dafür gibt es diese Kolumne, mit der wir unserer Wut Luft machen. Diesmal: Das Narrativ des kriegerischen Managers, der mit allen Mitteln den Sieg anstrebt, ist aus der Zeit gefallen. Ein Plädoyer für zivilisiertes, erwachsenes Unternehmertum.
In vielen Vorstandsetagen, unter Investmentbanker*innen und in Start-up-Gründerteams geht es noch immer zu wie im Krieg: Oliver Samwer forderte im Jahr 2011 in einem internen Schreiben an seine Mitarbeiter*innen, ein Marktsegment in einem „Blitzkrieg“ zu erobern. Von sich selbst sagte er damals, dass er der aggressivste Mann im Internet sei. Mark Zuckerberg nutzt intern regelmäßig das englische Wort domination, um seine Ambitionen zu zeigen. Das verriet der Facebook-Co-Founder Chris Hughes in einem Artikel für die New York Times. Und im streng hierarchischen Führungsteam des Zahlungsdienstleisters Wirecard ging es um Korpsgeist und Treueschwüre. Das berichtete die FAZ im Zuge des Insolvenzverfahrens.
Besonders überraschend ist dieses Vokabular nicht. Schließlich geht es in unserer Wirtschaftswelt an vielen Stellen um Eroberungen, feindliche Übernahmen, der Stärkere schluckt den Schwächeren. Firmen werden durch Krisen navigiert. Wen wundert es da, dass die fast ausschließlich männlichen Entscheider vieler Unternehmen oftmals wie Kriegsherren anmuten?
Zu dem Bild, dass sie wie Armeen geführt werden, passt auch, dass Unternehmen sich die Wahrheit zurechtbiegen, wie es eben passt: Gemessen werden sie nur am Erfolg, im Krieg gelten eben besondere Regeln, und was einen nicht ins Gefängnis bringt, ist erlaubt. Dass Unternehmer*innen dabei regelmäßig den Kontakt zur Realität verlieren und nicht mitbekommen, dass sie längst die Grenzen des moralisch und juristisch tragbaren überschritten haben, verwundert da kaum.
Die Macht der einen Zahl
Warum funktioniert ein so kriegerisches Verhalten überhaupt? Warum können Menschen wie Oliver Samwer heutzutage mit skrupellosen Methoden als Unternehmer Milliardenvermögen anhäufen? Es liegt nahe, dass unser Wirtschaftssystem dieses Verhalten belohnt.
Eine zentrale Rolle könnte dabei das Bruttoinlandsprodukt (BIP) spielen – die eine, mächtige Zahl, der sich nach dem zweiten Weltkrieg als zentrale Steuerungsgröße erst alle westlichen und schließlich praktisch alle Volkswirtschaften weltweit unterworfen haben.
Die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ist kompliziert, die Grundidee ist jedoch, dass es die industrielle Produktionskapazität eines Landes abbildet. Damit misst es, etwas vereinfacht gesagt, wie gut eine Volkswirtschaft darin ist, einen Krieg zu stützen. Sie macht also hochgradig Sinn als Kennzahl für ein Land, das einen oder mehrere Kriege führt und die inländische Wirtschaft vor allem dazu braucht, diesen Krieg zu finanzieren und zu stützen.
Es ist nicht erstaunlich, dass das BIP vor allem von den USA international durchgesetzt wurde. Es ist ein Staat, der in den vergangenen 100 Jahren praktisch permanent in kriegerische Auseinandersetzungen involviert war, und der aktuell eine militärische Präsenz in 172 Ländern (von 193) weltweit unterhält.
Dabei misst das BIP den Erfolg einer Volkswirtschaft auf sehr einseitige Weise. Beispielsweise trägt unbezahlte Pflegearbeit nicht zum BIP bei, bezahlte Pflegearbeit kaum. Ein gesundes Ökosystem spielt für das BIP keine Rolle, ein Wald taucht in ihm nur auf, wenn er abgeholzt und zu verwertbaren Produkten verarbeitet wird.
Schon 1968, als das BIP seinen Siegeszug antrat, sagte Robert Kennedy: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“
In einem Wirtschaftssystem, das, etwas vereinfacht gesagt, seinen Erfolg daran misst, wie effektiv es einen Krieg stützen kann, ist es also alles andere als verwunderlich, dass Menschen, die aggressiv, dominant und rücksichtslos auftreten, für dieses Verhalten belohnt werden. Und dass solche Menschen überdurchschnittlich häufig in Vorstandsetagen und Gründerteams anzutreffen sind.
Warum das ein Problem ist
Ich finde: Dieses Bild von Unternehmertum und erfolgreichem Management braucht dringend ein Update. Es ist aus der Zeit gefallen. Wer will heute noch seine Arbeitskraft in Unternehmen stecken, die unter kriegsähnlichen Bedingungen wirtschaften? Wer will Unternehmer*innen, denen jedes Mittel recht ist, um ein Vermögen anzuhäufen?
Außerdem passt diese Art des Wirtschaftens überhaupt nicht mehr zu den großen Herausforderungen unserer Zeit: Das rücksichtslose, kriegerische, auf unendliches Wachstum (Weltherrschaft!) ausgerichtete Wirtschaften mag Sinn ergeben, wenn es darum geht, einen Krieg zu gewinnen. Dann holzt man schon mal Wälder ab, um Kohle auszubuddeln. Dann muss die Lebensqualität zugunsten der Produktionskapazität zurückstehen, und der Klimawandel muss bis übermorgen warten.
Der ewige Fokus auf das BIP und dessen Wachstum führt unweigerlich dazu, dass Unternehmen ohne Grenzen wachsen. Das führt dann dazu, dass in einem Land (wie Deutschland) mehr Autos herumstehen, als es Menschen mit Fahrerlaubnis gibt. Und dass trotzdem jedes Jahr neue, noch größere, PS-stärkere Modelle auf den Markt geworfen werden. Dass das Management von Automobilfirmen in militärischem Gehorsam immer weiter wachsen will, bis noch der letzte Zentimeter des Landes mit Autos zugeparkt ist.
In einem Zeitalter, in dem weiter wachsende Produktionskapazitäten in westlichen Ländern überhaupt keinen Sinn machen, in dem der Klimawandel als das große, drängende Problem im Raum steht, müssen wir endlich aufhören, all unser Wirtschaften dieser einen Zahl unterzuordnen. Simon Kuznets, einer der Vordenker des modernen BIP, wies schon 1934 auf die Grenzen des BIP hin und warnte davor, quantitatives Wachstum über alles zu stellen und dabei aus dem Blick zu verlieren, ob es den Menschen und der Gesellschaft gut geht.
Was können wir tun?
Die Abkehr vom BIP als zentraler Steuerungsgröße ist ein großes, politisches Thema. Sie ist wichtig, und ich empfehle jedem*jeder, sich mehr mit diesem Thema zu befassen, das unser ganzes Zusammenleben so stark beeinflusst.
Womit wir allerdings schon heute anfangen können: ein neues Bild von Unternehmer*innen, von Führung und Management zeichnen. Eins, das in unsere Zeit passt. Lasst uns Gründer- und Führungspersönlichkeiten neu denken und uns fernhalten von allem, was an Kriegsgebaren und Weltherrschaftsanspruch erinnert.
Was wir von Gründer*innen und Führungspersonen erwarten sollten, ist im Grunde genommen das, was wir von jedem erwachsenen Menschen erwarten sollten. Schon in der Antike gab es die Idee von vier Kardinaltugenden, die bis heute Gültigkeit besitzen: Neben Klugheit und Tapferkeit werden auch Gerechtigkeit und Mäßigung gefordert. Die beiden letzteren kommen aktuell viel zu kurz bei der Bewertung von Führungstauglichkeit.
Speziell auf Gründer*innen bezogen lohnt es sich, zu fragen: Wer hat das Zeug, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen und auch dann das richtige zu tun, wenn es um viel Geld geht und Habgier und Neid ihn*sie vom Weg abbringen können? Wer ist nicht nur getrieben von Wettbewerbssinn, sondern möchte zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen?
Maßstäbe für ein zivilisiertes Unternehmertum
- Menschliches Maß: Weiß die Person, wann genug erreicht ist? Oder sieht sie Wachstum als Selbstzweck?
- Teilen: Ist die Person in der Lage, mit anderen zu teilen, also z.B. Gewinne mit denen, die sie als Mitarbeiter*innen erwirtschaftet haben? Oder ist sie von Geiz geprägt, will also immer möglichst viel für sich?
- Multiperspektivisches Denken: Kann die Person verschiedene Erfolgskriterien wie Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Kundinnen und den Beitrag zur Gesellschaft gemeinsam denken? Oder fokussiert sie ausschließlich auf monetären und quantitativen Erfolg?
- Aufrichtigkeit und Integrität: Sagt die Person das, was sie denkt und denkt, was sie sagt? Oder sagt die Person das, was opportun erscheint und verschweigt, was sie eigentlich denkt?
Wirtschaftliche Akteure haben einen enormen Einfluss auf unsere Welt. Wer eine Welt möchte, die von Vernunft und Menschlichkeit getragen wird, sollte entsprechende Maßstäbe an all diejenigen anlegen, die sie gestalten. Die Zeiten des kriegerischen Managers, der mit allen Mitteln den Sieg anstrebt, sind vorbei. Wir brauchen Unternehmer*innen, die maßvoll und kooperativ sind und Erfolg breiter denken können als in Form von Jahresumsatz und Wachstum. Unternehmer*innen, denen wir mit gutem Gefühl einen Teil der Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten übergeben können.