In unserer Arbeitswelt herrscht eine Monokultur. Wo es Macht, gute Karrieremöglichkeiten und viel Geld zu verdienen gibt, sitzen vor allem: Männer. Damit sich das ändert, gibt es unsere Kolumne „Geschlechtergefühle“. Diesmal: Warum uns allen ein bisschen weniger Gender-Dogmatismus guttun würde.
Wenn ich mit neuen Menschen zusammenarbeite, passiert es mir immer wieder: Der*die neue Kolleg*in stellt interessiert Fragen zum Thema Geschlecht, dazu, wie das denn bei mir so sei und wie ich angesprochen werden möchte. In diesen Gesprächen gebe ich mich meist heiter und gelassen, antworte, dass für mich sowohl „er“ als auch „sie“ passen, und lächle versöhnlich über krude Formulierungen und übergriffige Fragen zu meinem Körper hinweg.
Die Reaktion darauf ist oft ein erleichtertes: „Ach gut, dass du da nicht so dogmatisch bist, dann kommen wir ja miteinander zurecht.“ Und da vergeht mir das Lächeln, denn: Das vermeintliche Kompliment macht meine Identität zum Problem und lässt sie als eine extreme Haltung erscheinen.
Von der übermächtigen Trans-Lobby
Dahinter steckt eine widersprüchliche Vorstellung von trans Personen: Einerseits sind wir eine so winzige Personengruppe, dass unsere abwegigen Spleens weithin als vernachlässigbar gelten. Wir sollen uns nicht so anstellen, es gibt schließlich Wichtigeres. Wird auf unsere albernen Bedürfnisse eingegangen, sollen wir dafür bitte dankbar sein.
Andererseits sind wir Teil eines gefährlichen Trends, einer Genderideologie und nutzen unseren gewaltigen Einfluss, um anderen unseren Willen aufzuzwingen. Wir verbreiten neue Tabus – plötzlich darf man nichts mehr sagen – und machen allen so das Leben schwer. Daher die Erleichterung meine*r Kolleg*innen, dass ich nicht so dogmatisch bin.
Zweigeschlechtlichkeit ist das eigentliche Dogma
Dogmatisch zu sein, muss man sich leisten können. Trans Personen können das nicht. Unsere Erscheinung und Bedürfnisse gelten ohnehin schnell als exzentrisch und überzogen, denn: Weil ihnen die Abweichung auffällt, meinen manche, wir wollten absichtlich Aufmerksamkeit. Wir sollen aber nicht auffallen, sondern uns um Eindeutigkeit bemühen, die anderen nicht irritieren, es ihnen bitte nicht so schwer machen – als seien wir eine Zumutung. Entsprechend müssen wir Diskriminierungserfahrungen meist individuell managen. In vielen Organisationen gilt: Diversity ja gern, aber Diskriminierung darf nicht thematisiert werden.
In Wahrheit gibt es keine bedrohliche Trans-Übermacht; die Realität ist umgekehrt: Aus Angst vor Gewalt und Belästigung sind in Deutschland ein Drittel aller trans Personen am Arbeitsplatz ungeoutet. Etwa die Hälfte wird bei der Jobsuche oder der Arbeit diskriminiert1, und über die Hälfte ist arbeitslos, im Vergleich zu fünf Prozent der Gesamtbevölkerung.2 Etwa 30 bis 40 Prozent werden bei Bewerbungen wegen ihres Trans-Seins nicht berücksichtigt, 15 bis 30 Prozent verlieren ihre Arbeit wegen ihres Trans-Seins.3 Genauer gesagt: Sie verlieren ihre Arbeit aufgrund des eigentlichen Dogmas, das hier am Werk ist: Zweigeschlechtlichkeit.
Fest soll der Geschlechterglaube immer stehen
Dogmatisch zu sein bedeutet, hartnäckig an einem Glauben oder einer Anschauung festzuhalten und sie für die einzig wahre zu halten – wie zum Beispiel, dass Menschen qua Natur entweder männlich oder weiblich sind. Dabei ist diese Vorstellung von genau zwei Geschlechtern recht neu: Die Zweiteilung in Männer und Frauen, die einander gegenüberstehen und sich gegenseitig ergänzen, fand im europäischen Raum erst im 18. Jahrhundert statt.4 Die zu dieser Zeit wichtiger werdende Wissenschaft erschuf männliche und weibliche Eigenschaften und bemühte sich, die vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechterbinarität zu begründen und so Ungleichheiten zu legitimieren.
Doch die Vielfalt der menschlichen Geschlechter in zwei diametral entgegengesetzte Gruppen einzuteilen funktioniert nicht – und hat auch nie funktioniert: Genitalien, Gehirne und Gefühle passen nicht in zwei Kategorien,5 und schon vor über zweihundert Jahren gab es geschlechtsneutrale Pronomen.6 Geschlechtervielfalt ist normal und für manche Menschen eine Möglichkeit zur spielerischen Auseinandersetzung. Wer diese Tatsache als dogmatisch diffamiert, sieht den eigenen Tellerrand nicht.

Geschlecht ist keine individuelle Sache
Das Dogma der Zweigeschlechtlichkeit hält sich wacker. Das liegt aber nicht daran, dass diese Geschlechtersache so kompliziert und überfordernd ist und es eben etwas Zeit braucht, sich an neue Begriffe oder Pronomen zu gewöhnen. Menschen kennen die Ergebnistabellen großer Fußballmeisterschaften, vergleichen die Vor- und Nachteile neuer Handykameras und diskutieren die gesundheitsfördernden Eigenschaften verschiedener Superfoods.
Es mangelt also nicht an Lernfähigkeit, sondern an Einfühlungsvermögen und Engagement. Wir entscheiden, was uns wichtig ist, womit wir uns beschäftigen, was wir zu unserer Sache machen und was nicht. Der Unwille, sich Trans-Themen anzunehmen, hat etwas mit dem Dogma der zwei Geschlechter zu tun.
Binarität tut niemandem gut
Meine Anwesenheit bereitet anderen Unbehagen. Aber nicht mit mir, sondern mit sich selbst. Bei den Gefühlen, die andere zu mir und meinem Körper haben, geht es vor allem um sie, denn: Wir alle leben unter dem Zwang der Zweigeschlechtlichkeit und strengen uns an, unserem zugewiesenen Geschlecht zu entsprechen. Männer leben in der Angst, als Weichei zu gelten, während die Frauen auf dem Schön-aber-bitte-nicht-zu-sexy-Drahtseil balancieren. Wenn die binäre Ordnung ins Wanken gerät, geraten auch diejenigen ins Wanken, die sich als Teil von ihr sehen.
Abweichungen sind schwer auszuhalten, denn Unordnung macht unruhig. Ich soll unkompliziert sein und mich anpassen, damit sich niemand mit sich selbst auseinandersetzen muss. Auf einmal wird nämlich das eigene Geschlecht, das bis dahin natürlich, selbstverständlich und alternativlos war, zu einer Entscheidung. Und damit kommt das Gefühl auf, sich angesichts von Alternativen für diese Entscheidung rechtfertigen zu müssen. Das wird als bedrohlich wahrgenommen und erhöht die Gefahr von Gewalt. Auch wenn diese Gewalt gegen mich gerichtet ist, geht es nicht wirklich um mich, sondern um diejenigen, die sie ausüben.
Ein bisschen Unordnung machen
Transgeschlechtlichkeit gilt fälschlicherweise als Schicksal oder Laster und wird zu persönlichen Anliegen einzelner Betroffener gemacht. Dabei ist Geschlecht nie nur eine individuelle Angelegenheit. Und die Auflösung einer starren Einteilung in zwei Geschlechter kann auch denjenigen ein eigenes Anliegen sein, die in der aktuellen binären Welt ganz bequem leben. Niemand muss alle Arten, Geschlecht zu leben, verstehen, um für ihre freie Entfaltung zu sein.
Ja, Uneindeutigkeit kann Menschen heraus- oder überfordern, denn sie konfrontiert sie mit dem, was sie sich selbst nicht erlauben. Was dagegen hilft? Ein bisschen mehr Gelassenheit und Mitgefühl, auch mit sich selbst. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Geschlecht eine ernste Sache ist. Es gibt wenige Orte, an denen man mal eben aus Spaß neue Namen, Pronomen oder Kleidung ausprobieren kann, einfach weil es sich gut oder spannend anfühlt. Ziemlich schade! Lasst uns doch gemeinsam mehr Möglichkeiten für neue Lebensweisen schaffen. Anstatt abwehrend einen Dogmatismus derer zu imaginieren, die an den Kategorien rütteln, empfehle ich, selbst auch mal gedankliche oder körperliche Dehnübungen in Sachen Geschlecht zu machen. Es tut gut, versprochen!

Takeaways
- An trans Personen wird die Anforderung gestellt, möglichst wenig aufzufallen und die binäre Ordnung nicht zu irritieren.
- Ihre Erscheinung, Forderungen und Bedürfnisse gelten schnell als überzogen und exzentrisch. Das liegt am Dogma der Zweigeschlechtlichkeit.
- Geschlecht ist keine individuelle Angelegenheit. Wenn Menschen mit negativen Gefühlen auf trans Personen reagieren, hat das in erster Linie etwas mit ihnen selbst zu tun.
FUßNOTEN
- 1
European Union Agency for Fundamental Rights: A long way to go for LGBTI equality (2020) ↩
- 2
Tamás Jules Fütty / Marek Sancho Höhne / Eric Llaveria Caselles : Geschlechterdiversität in Beschäftigung und Beruf. Bedarfe und Umsetzungsmöglichkeiten von Antidiskriminierung für Arbeitgeber_innen (2020) ↩
- 3
Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben (2020) ↩
- 4
Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben (1976). ↩
- 5
Anne Fausto-Sterling: Gender/Sex, Sexual Orientation, and Identity Are in the Body: How Did They Get There? (2019). ↩
- 6
Dennis E. Baron: The Epicene Pronoun: The Word That Failed (1989). ↩