In unserer Kolumne Frag Fred geben wir Antworten auf Fragen, die im Kontext Neuer Arbeit immer wieder auftauchen. Diesmal geht es um die Frage, wie wir im Team offen miteinander sprechen können, ohne uns zu verletzen.
Dieser Guide beantwortet folgende Frage:
Wir wünschen uns einen Umgang im Team, in dem wir ehrlich und offen alles aussprechen können, ohne dass dabei Gefühle verletzt werden. Aber in der Praxis tun wir uns oft schwer damit: Entweder die Ehrlichkeit bleibt auf der Strecke, dann wird eher hinter dem Rücken geredet als miteinander. Oder wir sind radikal ehrlich, dann wird es aber schnell emotional und Konflikte entstehen. Wie bekommen wir beides unter einen Hut: ehrlich und rücksichtsvoll miteinander zu sein?
Nie wieder schlechte Meetings!
Abo + Geschenk holenDie meisten Unternehmen sind von wertschätzender Aufrichtigkeit weit entfernt
Leitsätze wie „Wir sprechen miteinander, nicht übereinander“ klingen toll und erstrebenswert für jede Unternehmenskultur. Es aber täglich im Arbeitsleben zu praktizieren kann herausfordernd sein – besonders wenn sich längst eine Läster-, Schweige- oder Aggressionsmentalität breitgemacht hat. Wie kommen Unternehmen zu einer Kultur wertschätzender Ehrlichkeit? Und warum sind die meisten überhaupt so weit davon entfernt?
Mangel an wertschätzender Aufrichtigkeit hat viele Gründe: Oft halten wir unsere wahren Gedanken zurück aus Angst, anderen oder uns selbst zu schaden. Wir befürchten, mit unserer Meinung anzuecken oder andere vor den Kopf zu stoßen, wenn wir allzu offen und ehrlich sind. Und bevor wir als rücksichtslos oder aggressiv wahrgenommen werden, schweigen wir lieber und fressen unseren Ärger in uns hinein.
Wäre es nicht schöner, wenn wir ehrlich und unbeschönigt, aber zugleich konstruktiv und wertschätzend miteinander kommunizieren könnten?
Das setzt allerdings voraus, dass wir mit uns selbst im Reinen sind und uns als gleichgestellt betrachten – als Mensch, aber auch in unserer Rolle im Unternehmen. Nur wer nicht auf andere herabschaut, kann seinen*ihren Kolleg*innen echtes Wohlwollen entgegenbringen und sie angemessen unterstützen. Das gilt besonders für diejenigen, die wertschätzende Aufrichtigkeit im Unternehmen vorleben könnten, nämlich die Führungskräfte.
Aber wie sieht eine nicht wertschätzende Kommunikationskultur – der Ist-Zustand vieler Unternehmen – eigentlich genau aus?
Was bedeutet Arbeitskultur?
zum New Work GlossarViele Unternehmen wollen weg von der Läster-, Schweige- und Aggressionskultur
Wie eine Lästerkultur aussieht, wissen wir: Ständig wird hinter dem Rücken übereinander geredet, nach dem Motto: „Wusstest du schon …?“ oder „XX hat YY gemacht, was für ein ZZ“. Das Unangenehme an einem solchen Umfeld: Alle – selbst die, die über andere herziehen – wissen, dass über sie gelästert wird, sobald sie den Raum verlassen.
In der Schweigekultur hingegen halten die Menschen ihre Gedanken und Gefühle zurück oder unterdrücken sie sogar komplett, oft weil sie denken: „Das kann man doch nicht sagen.“ Das führt auf Dauer nicht nur zu Magenschmerzen, sondern sorgt auch für Unzufriedenheit, weil sich ungelöste Konflikte anstauen.
Das genaue Gegenteil, aber nicht minder unangenehm, ist die Aggressionskultur. Hier wird rücksichtslos alles rausgehauen, egal wie frech oder unverschämt. Viele verharmlosen ihr aggressives Verhalten mit Sätzen wie „Ach, der*die kann das schon ab“ oder „Ich sage eben, was ich denke“. Doch in Wahrheit knallen sie ihren Mitmenschen bloß ungefiltert ihre Gedanken und Gefühle vor den Latz – ohne Rücksicht auf deren Wohlergehen.
Wie können Unternehmen von einer Läster-, Schweige- oder Aggressionskultur zu mehr Offenheit und Wertschätzung am Arbeitsplatz gelangen? Die US-amerikanische CEO-Coachin Kim Scott hat dazu ein Kommunikationskonzept entwickelt, das sie Radical Candor nennt, wörtlich in etwa „rigorose Offenheit“. Die Idee dahinter ist, zu einem Miteinander zu finden, das schonungslos ehrlich, aber zugleich mitfühlend, zugewandt und unterstützend ist.
Was ist Radical Candor?
Die beiden Dimensionen der wertschätzenden Aufrichtigkeit hat Scott in ein Modell mit vier möglichen Kommunikationsformen übertragen. Oben rechts in diesem Modell befindet sich die wertschätzende Aufrichtigkeit – sie sollte in jeder Interaktion angestrebt werden.
Die zwei Achsen des Radical-Candor-Modells:
- Wertschätzung (engl. care): Liegt mir die andere Person am Herzen? Will ich ihr Bestes und kommuniziere das auch?
- Aufrichtigkeit (engl. candor): Bin ich komplett aufrichtig und sage offen, was ich denke?
Scott unterscheidet zwischen vier Kommunikationsformen, auf die Menschen insbesondere beim Feedback-Geben zurückgreifen:
- Ruinous Empathy: schädliche Empathie
- Radical Candor: wertschätzende Aufrichtigkeit
- Obnoxious aggression: aggressive Offenheit
- Manipulative insincerity: manipulative Unaufrichtigkeit
Radical Candor in der Praxis
Scotts Modell lässt sich auf jede Interaktion mit Kolleg*innen übertragen. Behalte in deiner Kommunikation einfach die beiden Achsen im Blick und justiere immer wieder nach: Sollte ich mehr Mitgefühl zeigen? Oder wäre es angebracht, noch ehrlicher zu sein?
In ihrem Buch beschreibt Scott eine prägende Situation aus ihrem Arbeitsleben: Ihre frühere Chefin wies sie darauf hin, dass sie im Vortrag ständig „ähm“ gesagt habe. Kim maß dem Feedback keine große Bedeutung bei, woraufhin ihre Chefin den Ehrlichkeitsregler nach oben fuhr: „Wenn du ständig ‚ähm‘ sagst, lässt dich das dumm aussehen.“
Eine so klare Ansage funktioniert natürlich nur, wenn sich die andere Person (in diesem Fall Scott) so wertgeschätzt fühlt, dass sie das harte Feedback annehmen kann. Andernfalls könnte ein direktes Feedback („Du hast ständig ‚ähm‘ gesagt“) dazu führen, dass sich die Person angegriffen oder verunsichert fühlt. Dann ist es ratsam nachzujustieren und der Person mehr Wertschätzung zu zeigen, etwa indem du ihm*ihr versicherst, dass du ihn*sie als Mensch und Kolleg*in schätzt und dass das Feedback nur als hilfreicher Hinweis gedacht war.
Aber Vorsicht: Beim Versuch, mehr Wertschätzung auszudrücken, kann es schnell geschehen, dass wir die Ehrlichkeit einkassieren: „Na ja, so oft hast du gar nicht ‚ähm‘ gesagt; vielleicht hab ich das auch viel zu groß gemacht; jemand anderes würde es bestimmt anders sehen.“ Damit bewegst du dich jedoch in das Feld der schädlichen Empathie.
Lob und Kritik – die zentralen Bausteine der wertschätzenden Aufrichtigkeit
Das wichtigste Trainingsfeld für wertschätzende Aufrichtigkeit sind natürlich Feedback-Situationen, also Lob und Kritik. Beide sollten ihren festen Platz in der Zusammenarbeit haben, aber halte dich dabei an folgende Prinzipien:
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Behalte stets im Kopf, dass du dich auch irren kannst. Biete deine Perspektive an, ohne sie als alleingültige Wahrheit zu verkaufen. Vermeide absolute Formulierungen und Zuschreibungen wie „Das war sehr professionell“ oder „Du bist faul“. Bleib stattdessen bei dir und deinen eigenen Wahrnehmungen, Beobachtungen und Empfindungen, z.B.: „Ich habe es als … wahrgenommen, und das hat folgende Emotion bei mir ausgelöst.“
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Thematisiere niemals die Persönlichkeit deines Gegenübers. Es steht dir nicht zu, die Persönlichkeit oder andere unveränderliche Eigenschaften anderer zu bewerten. Kommentiere also nicht die Intelligenz oder Introvertiertheit einer Person – schon gar nicht in absoluten Zuschreibungen wie „Du bist so intelligent/introvertiert/ …“ Bleib beim konkreten Verhalten der Person und beschreibe, was es mit dir gemacht hat, z.B.: „Du hast gerade zum dritten Mal die Vorgaben geändert, das stresst mich und ich fühle mich unwohl damit.“
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Frage dich: Was hilft der anderen Person? Vermeide Allgemeinplätze und Floskeln wie „Gut gemacht“ oder „Weiter so“. Werde konkret und gib deine Beobachtungen wieder, z.B.: „Dieser Bericht ist dir gut gelungen, besonders gefällt mir …“ Auch Handlungsempfehlungen für die Zukunft können hilfreich sein, etwa: „Ich wünsche mir mehr XX und weniger YY von dir.“
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Gib dein Feedback am besten zeitnah und persönlich. Lob und Kritik funktionieren am besten, wenn sie zügig erfolgen, nicht erst Tage oder Wochen nach der betreffenden Situation. Idealerweise überbringst du sie außerdem persönlich, statt bloß per Text oder Sprachnachricht. Denn nur so siehst du, wie dein Feedback ankommt, und kannst ggf. nachjustieren, um die richtige Balance zwischen Ehrlichkeit und Wertschätzung herzustellen.
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Lobe öffentlich, kritisiere im Privaten. Kritik sollte niemals öffentlich erfolgen, außer die Person lädt explizit dazu ein. Lob kann öffentlich erfolgen, allerdings nur, wenn das der Person nicht unangenehm ist. Frag dich einfach, was aus ihrer Sicht am hilfreichsten ist – das sollte immer die oberste Maßgabe sein. Wenn du es nicht weißt: Frag die Person selbst, wie es ihr am besten liegt.
Führungskräfte sollten als Vorbild fungieren – beim Geben, aber auch beim Annehmen von Kritik
Wie bei den meisten Transformationsthemen ist es auch beim Kommunikationsstil wichtig, dass die Menschen in der Führung und in anderen wichtigen Positionen mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn sich Führungskräfte um mehr wertschätzende Aufrichtigkeit bemühen, inspiriert das die Menschen in ihrem Team, es ihnen nachzutun.
Solltest du also eine Führungsrolle innehaben, übe dich erst recht in den vorgestellten Tools: Verbessere dein Skillset in Lob und Kritik und lade selbst beides ein. Kim Scott schlägt Führungskräften sogar vor, gesonderte Meetings einzuberufen, in denen die Mitarbeiter*innen sie nach Herzenslust kritisieren und ihnen sagen dürfen, was sie besser machen könnten. Wenn du das durchziehst, zeigst du deinem Team, dass es nicht schlimm, sondern sogar wünschenswert ist, dich zu kritisieren – das kann einen enormen Effekt auf eure Kommunikationskultur haben.
Ein weiteres effektives Tool, um mit gutem Beispiel voranzugehen, ist dieses: Lege dir eine Frage zurecht, mit der du standardmäßig Kritik einladen willst. Du kannst dir selbst eine solche Kritik-Einladungsfrage ausdenken oder dir hier eine aussuchen:
- Was ist eine Sache, die ich noch besser machen könnte?
- Wovon hättest du dir mehr oder weniger gewünscht?
- In einer idealen Welt, was sollte ich anders machen?
Stelle deine Kritik-Einladungsfrage nach jedem Meeting, jeder Präsentation und jedem anderen wichtigen Event. Entscheidend ist, sie so konkret zu stellen, dass niemand einfach mit „Alles war super“ antworten kann. „Wie fandest du das Meeting/den Vortrag/…?“ ist keine gute Frage, weil sie nicht dazu einlädt, etwas Kritisches zu sagen.
Dranbleiben lohnt sich
Wenn du Radical Candor in deinem Unternehmen etablieren möchtest, solltest du dies immer auch als Möglichkeit begreifen, die persönliche Entwicklung im Team anzustoßen. Also stelle deinen Leuten Coaches zur Seite, die sie in ihrem – und dich in deinem – Lernprozess anleiten und begleiten.
Am Ende geht es darum, eine Kultur der Wertschätzung und Zugewandtheit zu entwickeln, die ein gutes Gleichgewicht zwischen Lob und (einfühlsamer) Kritik findet. In der sich die Menschen frei äußern können – einfach, weil sie es aus einer wohlwollenden Haltung heraus tun, die anderen nicht schaden will.
Es mag utopisch sein, dies immer und überall zu erreichen. Scott selbst räumt ein, dass Radical Candor bei allen Beteiligten ein hohes Maß an menschlicher Reife, Selbstreflexion und kommunikativen Fähigkeiten voraussetzt. Doch selbst, wenn das Ziel nicht vollständig erreichbar ist, lohnt es sich, jedes Jahr ein paar Schritte in diese Richtung zu gehen. Denn jeder dieser Schritte macht dein Unternehmen zu einem etwas besseren und vor allem menschlicheren Ort.
Zum Weiterarbeiten
zum ToolFUßNOTEN
- 1
Kim Scott: Radical Candor: Be a Kick-Ass Boss Without Loosing Your Humanity (Macmillan, 2019) ↩