Schimpfen hat einen schlechten Ruf. Dabei kann es uns helfen, Frust und Stress abzubauen und zugrunde liegende Bedürfnisse zu erkennen.
„Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“ Das sagte der Grünen-Politiker Joschka Fischer zum Bundestagsvizepräsidenten, als der ihn nach mehreren Zwischenrufen von der Sitzung ausgeschlossen hatte. Der Vorfall ging in die Geschichte ein, auch weil sich hier so schön das Vornehme mit dem Unflätigen vermengt.
Obwohl dieser Eintrag ins Geschichtsbuch eher eine Ausnahme ist, geht die Geschichte des Schimpfens noch viel weiter zurück. Der Linguist André Meinunger, der sich der Malediktologie widmet, also der Wissenschaft vom Schimpfen, vermutet sogar, dass Schimpfwörter so alt sind wie die Sprache selbst.1
Ein Experiment mit Schimpansen, mit denen wir immerhin 99 Prozent unserer DNA teilen, stützt diese Vermutung: Nachdem die Tiere das Handzeichen für Schmutz gelernt hatten, bezeichneten sie bald nicht nur Abfall und Fäkalien so, sondern auch sich gegenseitig.2 Auch wir Menschen verwenden abwertende Objektivierungen wie z.B. „Dreckstück“, „Lappen“ oder „Abschaum“.

Definiere Schimpfen: Was ist ein Fluch, was eine Beleidigung?
Ein Fluch ist eine negative Äußerung, die sich auf Zustände oder Situationen bezieht. Zum Beispiel ein Missgeschick: „Mist, ich habe Kaffee auf die Tastatur gekippt.“ Oder eine stressige Situation: „Fuuuck, ich komme zu spät zum Meeting.“ Fluchen ist also eine Art Selbstgespräch und geschieht reflexartig.
Eine Beleidigung hingegen ist eine bewusste Äußerung mit dem Ziel, eine Person herabzusetzen, zu demütigen oder zu verletzen. Sie richtet sich häufig gegen eine Eigenschaft („Schwätzer“), das Aussehen („Pickelgesicht“) oder das Verhalten („Trampel“) einer Person und soll emotionalen Schaden anrichten.
Schimpfen wird in diesem Text als Oberbegriff verwendet, der beides einschließt.
Schimpfen ist also etwas Natürliches, dennoch gibt es etliche Vorurteile dagegen: Wer hemmungslos schimpft, habe keinen Anstand, keine Bildung, keine Kultur, schlicht: keine Erziehung, heißt es. Das liegt daran, dass Schimpfwörter oft mit Tabus spielen.
Ein Ventil für Aggressionen
Wenn eine soziale Norm vorschreibt, über etwas (eine Sache, ein Wort, eine Handlung) zu schweigen, spricht man von einem Tabu. Schimpfwörter bedienen sich dieser verbotenen Themen. Im deutschsprachigen Raum schimpfen wir am liebsten über Fäkalien („Scheiße“, „Arschloch“), im angloamerikanischen Raum sind sexuell gefärbte Schimpfwörter wie „Fuck“ und „Bitch“ verbreitet.3 Schimpfwörter wecken Assoziationen zu diesen Tabus – oder brechen sie. Daraus beziehen sie ihre Kraft: Wir setzen dem Auslöser eines negativen Gefühls eine verbale Grenzüberschreitung entgegen und schaffen dadurch einen emotionalen Ausgleich.
Das folgt laut Reinhold Aman, dem Gründer der Malediktologie, einer Kausalkette: Irgendetwas führt zu einer Frustration, zum Beispiel stürzt dein Textprogramm ab, bevor du speicherst, und die gesamte Mitschrift ist verloren. Dieser Frust führt zu einem Affekt, meistens Wut. Aman zufolge bist du dann „geistig, seelisch, körperlich aus dem Gleichgewicht, […] wie ein Dampfkessel, der explodiert, wenn der Dampf nicht abgelassen wird“. Das Schimpfen ist ein Ventil – ein therapeutischer Weg, die Erregung abzuarbeiten.
Schimpfen? Bei der Arbeit?
Neuere psychologische und neurologische Untersuchungen stützen Amans These, dass das Schimpfen Frustration abbaut. Sie gehen sogar noch weiter: Schimpfen helfe, sowohl psychischen als auch körperlichen Schmerz besser auszuhalten.4
Diesen frust- und schmerzlindernden Effekt machen sich viele Arbeitende zunutze. Eine qualitative Studie zeigt, dass Menschen bei der Arbeit vor allem in Stresssituationen schimpfen, um Frust abzubauen 9, aber auch, um Aufmerksamkeit zu erlangen, eine Aussage zu betonen, Autorität zu untermauern oder Dringlichkeit zu vermitteln: „Wenn wir jetzt nicht schnell sind, sind wir echt am Arsch.“ In vielen Organisationen bildet sich mit der Zeit eine informelle Schimpfkultur heraus, die Solidarität und Zusammenhalt fördere, resümieren die Autor*innen.10
Schimpfen ist ein Werkzeug, das Können, Kontrolle und Umsicht erfordert
Das beschriebene Geflecht an informellen Regeln birgt aber auch Risiken: Wer viel flucht, kann schnell den Respekt seiner Mitmenschen verlieren, Konflikte anheizen und letztlich seine*ihre Stellung gefährden. Außerdem hängt es immer vom Kontext ab, ob und welche Schimpfwörter angebracht sind. Im Einstellungsgespräch fährt man sicherlich am besten, wenn man sie ganz vermeidet.
Schimpfen hilft!
Klar ist: Schimpfen darf nicht benutzt werden, um andere auszuschließen oder zu mobben. Selbst harmlos erscheinende Flüche sollten wir stets genau auf ihre Bedeutung hin prüfen und gegebenenfalls aus unserem Wortschatz streichen.
Wer „verflixte Flitzpiepenkacke“ schimpft, mag eher belächelt werden. Wer etwas oder jemanden allerdings als „behindert“ bezeichnet, wird hoffentlich Protest erfahren. Die Bezeichnung ist abwertend und menschenfeindlich, denn sie diffamiert Personen mit Behinderung als schlecht oder wertlos. Schimpfwörter wie „Scheiße“, „Mistkacke“ oder „fuck“ diskriminieren dagegen niemanden per se.

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Magazin kostenlos lesenSchimpfend deine Bedürfnisse erkennen
Indem du deine Schimpftiraden bewusst steuerst, vermeidest du nicht bloß Diskriminierungen – es kann dir sogar helfen, die Ursache deiner Wut zu ergründen. Wie gelingt das?
Schritt 1: Wut wertfrei wahrnehmen
Wut bekommt im Arbeitsleben, aber auch im Leben allgemein, wenig Raum.11 Dabei ist Wut hilfreich: Sie signalisiert, dass Grenzen überschritten wurden und Bedürfnisse unerfüllt sind.
Stell dir folgendes Szenario vor:
- Dein Kollege hat zugesagt, eine Aufgabe für dich zu übernehmen, sich danach aber nicht mehr gemeldet. Am Abgabetermin schreibt er dir lediglich: „Hey, ich brauche noch ein bisschen.“ Erst bist du frustriert, dann wütend: Dein Herzschlag und deine Atmung werden schneller, dein Gesicht läuft rot an, die Muskeln sind angespannt.
Lass die Wut aufsteigen und beobachte, wie sie sich anfühlt. Bewerte weder dich noch deine Gefühlslage.
Schritt 2: In einem geschützten Raum ausschimpfen
Schimpfen kann dir helfen, die Wut schnell wieder loszuwerden. Natürlich solltest du deinen Kollegen nicht anschreien und wüst beleidigen. Das eskaliert den Konflikt und kann eurer Beziehung nachhaltig schaden. Such dir stattdessen einen geschützten Raum, in dem dich niemand hören kann, bevor du ungefiltert losschimpfst und alles herauslässt.
- „Dieser unzuverlässige Pisser macht mich so sauer, ich könnte ihm den Kopf abreißen und in den Hals scheißen!“
So baust du deine Wut und damit die körperliche wie geistige Frustration ab.
Schritt 3: Von der Schimpftirade zum Bedürfnis
Jetzt geht es darum, zu den Bedürfnissen vorzudringen, die der Wut zugrunde liegen. Schreibe auf, warum du so wütend geworden bist. Schimpfwörter sind erlaubt, aber bette sie in deinen Vorwurf12 ein.
- „Dieser unzuverlässige Pisser (...). Und dann ist er auch noch so dreist, mir erst am Abgabetermin Bescheid zu geben. Er verlangsamt das gesamte Scheißprojekt.“
Fasse möglichst in einem Satz zusammen, was dich wütend macht.
- „Der Kollege ist unzuverlässig und gibt mir zu spät Bescheid.“
Forme deinen Satz so um, dass er ein „sollte“ enthält.
- „Der Kollege sollte zuverlässig sein und mir rechtzeitig Bescheid geben.“
Überlege, welche Bedürfnisse erfüllt wären, wenn der Satz nicht im Konjunktiv stünde.
- Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Respekt

Schritt 4: In den Auslöser der Wut hineinversetzen
Sobald du die Ursache deiner Wut erforscht hast, kannst du die Ursache für das Verhalten deines Gegenübers ergründen. Warum hat er*sie sich wohl so verhalten? Denk dran: Hinter jedem Verhalten steht die Motivation, Bedürfnisse zu erfüllen.
Auch, wenn du mit deinen Mutmaßungen daneben liegst, bereitest du so das Feld für ein klärendes Gespräch: Du hast nicht nur deine eigenen Bedürfnisse im Blick, sondern bist auch für die deines Gegenübers empfänglich.
Schritt 5: Ein klärendes Gespräch führen
Beschreibe deinem Kollegen, wie du die Situation erlebt hast und welche deiner Bedürfnisse dabei unerfüllt geblieben sind. Bitte ihn, die Situation aus seiner Sicht zu schildern. So nähert ihr euch einer gemeinsamen Wahrheit an.
Dann arbeitet ihr an Lösungen. Wenn du dich zuvor mit deinen Bedürfnissen auseinandergesetzt hast, sollte es dir leichtfallen, konkrete Bitten zu formulieren.
- „Bitte mache mir in Zukunft nur Zusagen, die du auch einhalten kannst. Ich weiß, dass immer mal etwas dazwischen kommen kann. Gib mir bitte zügig Bescheid, wenn du mehr Zeit brauchst.“
So machst du die Beleidigung zu einem Zwischenschritt, der es dir ermöglicht, dich selbst und dein Gegenüber besser zu verstehen. Das funktioniert übrigens auch, wenn du wütend auf dich selbst bist.
Also liest der Autor jetzt seinen eigenen Text, um damit klarzukommen, dass er kein Ende findet, das nicht so beschissen bemüht wirkt.

Zum Weiterlesen
- Bayrisch-Österreichisches Schimpfwörterbuch von Reinhold Aman
- Netflix-Serie: History of Swear Words
- Der große Polt – ein Konversationslexikon von Gerhard Polt
- Life is Like a Chicken Coop Ladder – A Portrait of German Culture Through Folklore von Alan Dandes
FUßNOTEN
- 1
Siehe auch: Max Fellmann: „Kruzifix Sakrament Hallelujah!“ (2011). ↩
- 2
- 3
Über die Gründe dieser Fixierung auf Fäkalsprache in den USA lässt sich z.B. nachlesen in Hans-Martin Gauger: Das Feuchte und das Schmutzige: Kleine Linguistik der vulgären Sprache (2012). Inzwischen wird das Schimpfen aber auch im deutschsprachigen Raum zunehmend sexuell. Siehe: Berliner Zeitung: „Fuck“ statt „Scheiße“? Wie sich Schimpfwörter ändern (2020). ↩
- 4
Der Pain-Overlap-Theory zufolge sind beide Schmerzformen sehr ähnlich. Unser Gehirn sendet Schmerzsignale aus, um deutlich zu machen, dass Gefahr droht. Nicht nur, damit wir die Hand von der heißen Herdplatte ziehen, sondern auch, um wichtige Beziehungen zu erhalten. Dabei wird Adrenalin ausgeschüttet und der Puls steigt. Siehe: Naomi I. Eisenberger & Matthew D. Lieberman: Why it hurts to be left out (2004). ↩
- 5
Die Forscher*innen baten sie, fünf Wörter aufzulisten, die sie sagen würden, wenn sie ihren Finger aus Versehen mit einem Hammer treffen würden. Die beliebtesten Schimpfwörter waren „fuck“ und „shit“. ↩
- 6
Dazu wurden die Proband*innen aufgefordert, von einem Ereignis zu berichten, bei dem sie sich ausgeschlossen oder zurückgewiesen fühlten. Dann durften sie fluchen (Experimentalgruppe), woraufhin sie einem Schmerztest unterzogen wurden. Darin wurden vier positive und vier negativen Emotionen (z.B. „Waren Sie wütend?“) auf einer Skala von eins bis fünf abgefragt. ↩
- 7
- 8
- 9
- 10
- 11
Wie Sebastian Klein in seiner Kolumne Frag Fred (Ausgabe #16) schrieb, haben viele von uns gelernt, Wut zu ignorieren oder zu unterdrücken. Siehe: Sebastian Klein: Wie schaffen wir Räume für Wut (2023). ↩
- 12
Das Vorgehen ist an den Ärger-Prozess aus der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg angelehnt. ↩