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Eine im Seitenprofil gezeigte Figur kniet einbeinig und hält einen aus geometrischen Formen bestehenden Turm mit beiden Händen anbetungswürdig nach oben. Im Hintrgrund ist eine Stadt gebaut aus Formen, welche an Buntglasfenster angelehnt sind.
Case Study

Hierarchien abbauen durch Soziokratie

Massenhafte Kirchenaustritte und antiquierte Machtstrukturen: Das Bistum Aachen hat existenzielle Probleme. Um es zu erneuern, tut Helmut Dieser etwas, was noch kein Bischof vor ihm gewagt hat: Er bindet seine Entscheidungen an ein soziokratisches Gremium.

Das Bistum Aachen befindet sich wie die gesamte römisch-katholische Kirche in einer Krise: Rund 19.000 Katholiken traten hier 2022 aus der Kirche aus – so viele wie nie zuvor. Die Gründe dafür sind vielfältig. So spielen veraltete Moralvorstellungen eine Rolle: Noch immer verbietet die katholische Kirche gleichgeschlechtliche Liebe und Empfängnisverhütung. Zugleich ist ihre Stellung als moralische Instanz schwer beschädigt, seit bekannt wurde, dass Geistliche jahrzehntelang ungestraft ihre Schutzbefohlenen sexuell missbraucht haben. Die Kirche ermöglichte dies, indem sie die Täter schützte und eine Aufarbeitung verweigerte.

Kirchenaustritte im Bistum Aachen

Diagramm.png

Das Bistum Aachen hat insgesamt 935 416 Mitglieder
(Stand 2022) Quelle: kirchenaustritt.de

Was ist ein Bistum? ⛪

In der Kirche entscheidet der Bischof allein

Als Helmut Dieser 2016 in Aachen zum Bischof ernannt wird, herrscht im Bistum außerdem Entscheidungsstau, weil sein Posten zuvor fast ein Jahr unbesetzt war. Dieser erkennt, dass eine radikale Veränderung notwendig ist. Er lässt ein Gutachten zum Missbrauch erstellen, ernennt eine Kommission zur Aufarbeitung und gründet einen Betroffenenrat. Außerdem setzt er einen Prozess in Gang, um die Kirche neu auszurichten: Im sogenannten Synodalkreis sollte innerhalb eines Jahres über die Zukunft des Bistums entschieden werden, und zwar nach dem Konsent-Prinzip.

Die Vorbereitung darauf bestand in einem sogenannten Gesprächs- und Veränderungsprozess, an dem möglichst viele verschiedene Menschen im Bistum beteiligt werden sollten. Für diesen Prozess führten die Mitarbeiter*innen des Bistums von 2018 bis 2020 empirische Befragungen und Veranstaltungen durch und werteten Gespräche und Zuschriften aus. Das allgemeine Ziel war zunächst, die Ideen, Wünsche und Hoffnungen zu ermitteln, die die Menschen mit dem Bistum verbinden. Ausgehend davon wurden themenbasiert Arbeitsgruppen gebildet, die aus jeweils acht bis zehn Personen bestanden (Mitarbeiter*innen, Ehrenamtliche und jeweils ein*e Vertreter*in des Diözesan-Rats)1. Die Arbeitsgruppen entwickelten auf Basis aller Informationen bis zu 90-seitige Roadmaps zu Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Willkommens- und Kommunikationskultur, in denen sie versuchten, die zusammengetragenen Informationen zu strukturieren und Maßnahmen zu erarbeiten.

Solche Roadmaps können allerdings nur die Basis für Entscheidungen sein – denn Demokratie ist in der katholischen Kirche nicht vorgesehen. „Laut Kirchenrecht darf der Bischof sich nicht in ein Verfahren begeben, in dem er überstimmt werden kann“, sagt Jürgen Maubach, den Dieser damit beauftragte, ein geeignetes Modell für mehr Heterarchie, also Gleichberechtigung, zu finden. Maubach ist zwar systemischer Berater, im Bistum aber auch als Seelsorger tätig.

Einfarbiges Frontalfoto von Jürgen Maubach im Farbton Lila. Das Foto ist in ein grafisches Buntglasfenster gebettet.

Der Synodalkreis, ein soziokratisch tagendes Gremium

„Ich hatte alles zur Soziokratie gelesen, was ich in die Finger bekam“, sagt Maubach. Er weiß: Das Konsent-Verfahren der Soziokratie ermöglicht relativ schnelle Entscheidungen und stellt sicher, dass diese von allen Beteiligten mitgetragen werden. „Mir gefällt, dass man dort auf Augenhöhe zusammenkommt und jede*r die Chance hat, mitzureden.“ Außerdem könne der Bischof so andere gleichberechtigt miteinbeziehen, ohne das Kirchenrecht zu verletzen. Er muss sich dafür nur an die Entscheidungen des Synodalkreises2binden. „Damit die Moderation professionell abläuft, habe ich den Soziokratie-Experten Christian Rüther3angefragt“, erzählt Maubach.

Mir gefällt, dass man dort auf Augenhöhe zusammenkommt und jede*r die Chance hat, mitzureden.
Jürgen Maubach

Was ist Soziokratie?

Soziokratie ist eine Organisationsform zur ganzheitlichen Selbstorganisation. Sie basiert in ihrer heutigen Form auf Erkenntnissen der Systemtheorie, stammt jedoch ursprünglich aus der christlich-religiösen Bewegung des Quäkertums. Vier Prinzipien sollen garantieren, dass einzelne Meinungen und Stimmen hinter Argumenten zurücktreten.

  1. Konsent: Bei Entscheidungen fragt die Moderation nach Einwänden. Die Einwandgeber*innen integrieren den Vorschlag und legen ihn erneut vor. Nur einwandfreie Entscheidungen werden konsentiert, also verabschiedet.
  2. Kreisorganisation: Soziokratische Organisationen entscheiden in Kreisen, also in Gruppen von Menschen, die auf Basis ihrer Rollen zusammenkommen. Jeder Kreis hat einen festgelegten Verantwortungsbereich, über den er autonom entscheidet.
  3. Doppelte Verknüpfung: Besteht eine Kreishierachie, wird eine Person in den nächsthöheren Kreis und eine in den niederen Kreis entsandt: Dadurch gibt es jeweils zwei Verknüpfungen, die sicherstellen, dass Informationen kreisübergreifend geteilt werden und übergeordnete Interessen im Blick bleiben
  4. Offene Wahl: So, wie Entscheidungen zu Sachthemen getroffen werden, werden auch Personen gewählt. Zunächst werden Funktionen und Aufgaben konsentiert, dann eine passende Person.

Im Synodalkreis vertretene Rollen

Insgesamt 23 Personen waren im Synodalkreis vertreten. „Der Bischof hat versucht, dafür alle kirchlichen Entscheidungsträger*innen sowie Personen, die die Beschlüsse später umsetzen, an einen Tisch zu bringen – und das Gremium trotzdem möglichst divers aufzustellen“, sagt Maubach. Dafür hat er zwei jüngere Gemeinde- und Pastoralreferent*innen unter 40 ernannt und zusätzlich den Diözesan-Rat der Katholiken gebeten, zwei Mitglieder unter 30 zu entsenden. Hinzu kamen wesentliche Entscheidungsträger*innen verschiedener Kirchengremien und -räte, sein Stellvertreter, der Generalvikar, sowie der Ökonom des Bistums. Für die soziokratischen Abläufe waren zwei Moderatoren, eine Protokollführung, die Geschäftsführung und zwei geistliche Begleiter*innen anwesend. Allerdings waren nur fünf der 23 Teilnehmer*innen Frauen.

Der Synodalkreis bestand aus Mitgliedern, die ein Stimmrecht haben, und nebenstehenden weiteren Rollen, die die Mitglieder unterstützen und kein eigenes Stimmrecht haben.

Vier Teile eines grünen Buntglasfensters, welche in ihre vier Bestandteile aufgesplittert sind. In jedem Fensterstück befindet sich eine andere Person. Die Personen schauen sich jeweils an.

Mitglied

Mitglieder haben ein freies Mandat, sind also unabhängig von der Sichtweise des entsendenden Gremiums. Die Soziokratie baut darauf, dass sich Meinungen im Dialog ändern. Da die gemeinsame Lösung im Vordergrund steht, müssen einzelne Interessen (z.B. die des entsendenden Gremiums) zurückstehen. So wird der Kreis handlungsfähig.

Verantwortlichkeiten:
  • Sichtweise des entsendenden Gremiums einbringen
  • Ggf. vor der Sitzung Stimmungsbild im entsendenden Gremium einholen
  • Ggf. im Nachgang Entscheidung argumentativ verteidigen

Geschäftsführung des Gesprächs- und Veränderungsprozesses (Administration)

Verantwortlichkeiten:
  • unterstützt den Synodalkreis
  • bereitet Sitzungen und Beschlussvorlagen vor und lädt dazu ein

Protokollführung

Verantwortlichkeiten:
  • dokumentiert die Treffen

Moderation

Verantwortlichkeiten:
  • moderiert die Sitzungen
  • sorgt dafür, dass die Konsent-Methode eingehalten wird

Geistliche Begleitung

Verantwortlichkeiten:
  • vergegenwärtigt Gott im Kreis durch Unterbrechungen sowie Einladungen, in sich hineinzuspüren und mit Gott zu verbinden
  • gestaltet den geistlichen Rahmen, z.B. in Form meditativer Einstiege und Segensgebete

Gast (Vertreter*innen der Arbeitsgruppen & Fachleute (Kirchenrecht, Verwaltung usw.))

Verantwortlichkeiten:
  • bringt Fachexpertise ein
Erklärdiagramm des Synodalkreises (SK). Der Bischof bindet sich an die Entscheidungen des SK. Die Synodalversammlung konsentiert Beschlüsse des SK. Arbeitsgruppen erarbeiten Roadmaps für die Geschäftsführung, welche die Beschlussvorlage an den SK liefert.

Zunächst entwickelte der Synodalkreis einen Kompass4, eine Art Leitbild, das das gemeinsame Ziel beschreiben soll. Darin steht zum Beispiel, dass der Synodalkreis mehr Teilhabe in der Kirche ermöglichen und Lebensmodelle aller Generationen respektieren will. Die eigentliche Arbeit des Synodalkreises bestand dann darin, konkrete Beschlüsse zu erarbeiten, zu Fragen wie: Welche Maßnahmen würden von Respekt gegenüber Lebensmodellen aller Generationen zeugen? Wie kann mehr Teilhabe, z.B. von jungen Menschen und Frauen, im Bistum konkret aussehen?

Dazu bereiteten die jeweiligen Gruppen Roadmaps vor, aus denen die Geschäftsführung Beschlussvorlagen erarbeitete, ein- bis zweiseitige Dokumente, in denen die zentralen Argumente und für die strategische Ausrichtung relevante Punkte zusammengetragen wurden. Über diese stimmte der Synodalkreis nach dem Konsent-Verfahren ab.

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Das soziokratische Verfahren im Synodalkreis

1. Einstieg (30 Minuten)

Zunächst erzählen alle kurz, was sie bewegt. Es folgt ein geistlicher Einstieg in Form einer Meditation, eines Bibeltextes mit Auslegung oder eines Musikstücks. Dann stellt die Geschäftsführung den Ablauf vor und informiert den Synodalkreis über die wichtigsten Vorgänge seit der letzten Sitzung.

2. Information (30 Minuten)

Da die Mitglieder des Synodalkreises die Beschlussvorlagen nicht selbst erarbeitet haben, präsentiert sie ein*e Vertreter*in der entsprechenden Arbeitsgruppe. Im Anschluss stellen die Mitglieder Verständnisfragen oder bitten um Ergänzungen.

3. Meinung (45 Minuten)

In dieser Phase bilden sich in einem ersten Schritt Dreiergruppen. „So kann jede Person ihre Meinung formulieren, auch eher zurückhaltende, die sich im Plenum nicht ausführlich äußern würden“, sagt Soziokratie-Experte Rüther. In den Kleingruppen werden Meinungen ausgetauscht und formuliert, das Format dient also vor allem der Meinungsbildung. Anschließend hat im Plenum jede*r eine Minute Zeit, seine*ihre Meinung zur Beschlussvorlage in der großen Runde kundzutun.

Falls hier bereits deutlich wird, dass die Mitglieder der Beschlussvorlage ihren Konsent geben, ohne etwas zu ändern, kann die Entscheidung (Schritt 5) vorgezogen werden. Andernfalls ist der nächste Schritt der Vorschlag.

So kann jede Person ihre Meinung formulieren, auch eher zurückhaltende, die sich im Plenum nicht ausführlich äußern würden
Christian Rüther

4. Vorschlag (Dauer variabel)

Vorschlag bedeutet, dass die Beschlussvorlage grundlegend überarbeitet oder neu formuliert wird. Auch hier überlegt jede Person erst mal für sich allein: Was brauche ich unbedingt, damit ich dem Beschluss meinen Konsent geben kann? Was möchte ich konkret verändern?

Anschließend werden im Plenum die in Einzelarbeit entwickelten Ideen in Kleingruppen geclustert und Änderungsvorschläge erarbeitet. Zuletzt integrieren die Gruppen ihre Änderungen in die Beschlussfassung.

5. Entscheidung (Dauer variabel)

Vor der Abfrage der Entscheidung gibt es eine Unterbrechung in Form einer Achtsamkeitsübung, in der man sich mit dem Kompass verbindet. Die Abstimmung über den infrage stehenden Beschluss folgt nach dem Konsent-Verfahren. Dabei werden alle Teilnehmer*innen gefragt, ob sie Bedenken oder Einwände haben. Folgende Möglichkeiten der Antwort haben die stimmberechtigten Synodalkreis-Mitglieder:

A) Kein Einwand:

Ich finde die präsentierte Lösung optimal.

B) Leichte Bedenken:

Ich habe leichte Bedenken und möchte diese zu Protokoll geben.

C) Schwere Bedenken:

Ich habe schwere Bedenken und möchte, dass wir gemeinsam nach einer besseren Lösung suchen. Wenn das nicht klappt, kann ich damit leben.

D) Schwerwiegender Einwand:

Ich habe einen schwerwiegenden Einwand, ohne dessen Einarbeitung ich meine Zustimmung zum Beschluss nicht geben kann.

Erklärdiagramm der Entscheidungsfindung der stimmberechtigten Synodalkreis-Mitglieder. Der Kreis hat 4 Bereiche (ABCD). A=grün, B=gelb, C=orange, D=rot. Bereich ABC bilden den Konsent-Toleranzbereich. D = Schwerwiedender Einwand

6. Integration (Dauer variabel)

Falls jemand einen schwerwiegenden Einwand hat, erläutert die Person ihn und macht idealerweise einen Vorschlag, der ihn auflösen würde. Gibt es dazu Konsent, ist der Einwand integriert. Falls nicht, suchen die Beteiligten gemeinsam eine konsentfähige Formulierung, z.B. in Kleingruppen. In der Integrationsphase werden ebenfalls schwere Bedenken prozessiert. Hier wird wie bei schwerwiegenden Einwänden vorgegangen – mit dem Unterschied, dass der Beschluss in seiner vorigen Form angenommen wird, wenn die Beteiligten keine konsentfähige Lösung finden (wie in → 5. Entscheidung erklärt).

7. Abschluss (30 Minuten)

„Am Ende haben wir alle noch einmal reflektiert, was gut lief und was wir besser hätten machen können“, sagt Rüther. Feedbackbögen tragen zu einer fortlaufenden Verbesserungen des Prozesses bei.

Auswertungsbogen zur Moderation, geistlichen Begleitung, Organisation, Zusammenarbeit
  • Was ist gut gelungen?
  • Was könnte verbessert werden?
  • Was sollte mal ausprobiert werden?
  • Sonstige Rückmeldungen

Die Arbeit des Synodalkreises im Überblick

Der Synodalkreis hat alle Themen (von „Willkommens- und Kommunikationskultur“ über „interreligiöse Dialoge“ bis hin zu „Geschlechtergerechtigkeit“) nacheinander abgearbeitet. Im Schnitt waren zweitägige Treffen pro Thema nötig. Insgesamt dauerte der Prozess fast ein Jahr, vom Juni 2021 bis zum Mai 2022. In diesem Zeitraum hat der Synodalkreis 24 Mal getagt, vor allem an Samstagen. „Hinzu kam die Arbeit in den Kleingruppen, die dann teilweise unter der Woche neue Vorschläge erarbeiteten“, sagt Elodie Scholten, Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend im Bistum Aachen, die als unter 30-Jährige am Synodalkreis teilgenommmen hat.

Am Ende mussten die Beschlüsse noch einmal in die sogenannte Synodalversammlung. Das ist ein weiteres Gremium, das geschaffen wurde, um dem Anhörungsrecht der Räte zu entsprechen. Um bei der Fülle der Einwände arbeitsfähig zu bleiben, hatte sich der Synodalkreis darauf geeinigt, alle Einwände aus der Synodalversammlung maximal als schwere Bedenken einzustufen. Das bedeutete, es wurde jeweils ein Versuch unternommen, den Einwand zu integrieren. „Das war zum Schluss noch mal ein Kraftakt“, sagt Maubach. Aber: „Bis auf ein oder zwei Einwände konnten wir aber alle berücksichtigen.“ Im Mai 2022 wurden die letzten Beschlüsse gefasst und vom Bischof in Kraft gesetzt.

Für die Umsetzung ist die Abteilung Strategiemanagement in der bischöflichen Verwaltung verantwortlich. Sie überführte die Beschlüsse in konkrete Projekt- und Arbeitsaufträge, die von Gruppen und Teams bearbeitet werden, an denen Expert*innen, Rätevertreter*innen und Mitarbeiter*innen beteiligt sind.

Es macht eben einen Unterschied, ob beim Thema geschlechtersensible Haltung eine Betroffene moderiert oder nicht.
Elodie Scholten

Was könnte verbessert werden?

→ Doppelte Verknüpfung sicherstellen

Entscheidungen werden im Bistum vom Verwaltungsapparat vorbereitet. Darüber kann er Macht ausüben. Die Ausarbeitung lag bei diesem soziokratischen Prozess aber im Synodalkreis. „Die Entscheidungsträger im Bistum waren also entmachtet, solange der Synodalkreis tagte“, sagt Maubach. „Doch nun greifen bei der Umsetzung wieder die alten Muster, mit denen versucht wird, die eigenen Interessen durchzusetzen.“ Es fehlte die doppelte Verknüpfung zu den Führungskreisen der bischöflichen Verwaltung und den Räten und Gremien, die in der Soziokratie vorgesehen sind. In der Kürze der Zeit sei das laut Maubach allerdings nicht möglich gewesen.

→ Divers besetzen

Ein Kritikpunkt, der mehrfach geäußert wurde, ist, dass letztlich doch nur fünf der insgesamt 23 Mitglieder des Gremiums Frauen waren. „Ich hätte mir Parität gewünscht“, sagt Scholten. Auch Maubach teilt die Kritik und sagt, das liege auch an der grundsätzlichen Ungleichstellung der Geschlechter in der Kirche. Scholten meint allerdings, dass auch eine paritätische Besetzung der Moderation schon ein Zeichen gesetzt hätte. „Es macht eben einen Unterschied, ob beim Thema geschlechtersensible Haltung eine Betroffene moderiert oder nicht.“ Zudem hätte man das Gremium laut Scholten auch so aufstellen müssen, dass es die Glaubensgemeinschaft der Katholik*innen besser abbildet: „Es waren nur ein Rentner und drei Menschen unter 30 in der Gruppe“, sagt sie.5

Ein einfarbiges Frontalfoto in Magenta von Elodie Scholten, eingebettet in ein grafisches Buntglasfenster. Daneben befindet sich ein weiteres, rechteckiges, pastellfarbenes Buntglasfenster.

→ Mehr Zeit nehmen

„Die Konsent-Methode ist sehr gesprächslastig“, sagt Rüther. Es brauche Menschen, die sehr gut darin sind, Gedanken und Ideen eloquent auszudrücken. „Zum Glück haben wir solche Menschen gehabt“, sagt er. Für Scholten führte jedoch gerade das zu einer impliziten Hierarchie. „Wenn man nicht sehr präzise und schnell ist, kommt man nicht weit“, sagt sie. „Manchmal hatte ich einen Einwand, doch konnte ihn nicht direkt formulieren.“ Weil sie keinen konkreten Vorschlag hatte, ist die Moderation fortgefahren. Über allem schwebte zudem die Drohkulisse, dass, falls der Synodalkreis keine Entscheidung treffen würde, der Bischof es allein tun würde. „Da überlege ich mir zweimal, ob mir mein Einwand wirklich so wichtig ist“, sagt Scholten. Mehr Zeit, um ihre Einwände und Vorschläge zu formulieren, würde deshalb denjenigen helfen, die die Methode nicht täglich anwenden oder weniger Verwaltungserfahrung haben.

Was lief gut?

→ Zusammenhalt

Wie oben beschrieben verlangt der Synodalkreis von seinen stimmberechtigten Mitgliedern den Spagat zwischen „Gremium vertreten“ und „vom Gremium unabhängig handeln”. Das klingt nach einem hehren Ideal, ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Deshalb hebt Maubach hervor, dass er besonders fasziniert war vom Zusammenhalt der Gruppe. „Es gab ein großes Commitment, miteinander gute Arbeit zu machen.“ Die gemeinsame Arbeit sei eine Freude gewesen und die Teilnehmer*innen hätten sie sehr ernst genommen.

→ Ergebnisse

Trotz teilweise kontroverser Auseinandersetzungen waren letztlich alle Teilnehmer*innen mit den getroffenen Entscheidungen zufrieden. „Was dabei entstanden ist, ist nicht der kleinste Nenner“, sagt Maubach. „Wir sind teilweise sehr weit gegangen.“ Zum Beispiel hat der Bischof zum 1. Januar 2024 die Pfarreien aufgelöst und durch 44 „pastorale Räume“ ersetzt, die dann auch von Frauen geleitet werden können. „Es ist ein Paradigmenwechsel“, sagt Maubach. Scholten findet, dass viele Themen angepackt wurden und die Entscheidungen in die richtige Richtung gehen.

Fazit

In einem System, das ganz auf Hierarchie, ganz auf eine Person ausgerichtet ist, hat das soziokratische Verfahren trotzdem gut funktioniert. Letztlich wurden weitreichende Entscheidungen getroffen, und zwar nicht vom Bischof allein, sondern von einem für die katholische Kirche in Deutschland diversen Gremium.

Bei dem Experiment wurde allerdings kein großes Risiko eingegangen: Der Bischof hätte jederzeit abbrechen und die Entscheidungen alleine treffen können. Das Verfahren funktioniert nur, solange er mitspielt. So bleibt die Veränderung immer abhängig von der Gunst des Bischofs.

Zum Weiterdenken

  1. Fällt dir ein Bereich ein, in dem in deiner Organisation der Einsatz eines soziokratischen Gremiums einen Versuch wert wäre? Welche Schritte wären dafür nötig?
  2. Elodie Scholten hält das Verfahren für zu langwierig, um auf alltäglicher Basis konkrete Entscheidungen zu treffen. Allerdings könnte gerade hier eine klare Rollenzuteilung sinnvoll sein. Vorschläge würden am ehesten von der Person erarbeitet, die dafür am besten geeignet ist. Das Konsent-Verfahren stellt sicher, dass Entscheidungen safe enough to try sind, selbst bei Misslingen also kein zu großer Schaden entsteht. Welche Entscheidungen würdest du über ein solches Verfahren absichern?

Take-aways

  1. Das Bistum Aachen soll sich grundlegend erneuern. Der Bischof wollte die dafür nötigen Entscheidungen allerdings nicht allein treffen. Deshalb gründete er einen sogenannten Synodalkreis.
  2. Im Synodalkreis wurde gemeinsam nach dem Konsent-Verfahren entschieden. Dabei müssen Personen mit schwerwiegenden Einwänden angehört und einbezogen werden. Dadurch wird das bestehende hierarchische System zwar nicht ausgehebelt, aber es sind gleichberechtigtere Entscheidungen möglich.
  3. Der Synodalkreis hat aus Sicht der Teilnehmer*innen weitreichende Beschlüsse formuliert, die über den üblichen Weg unwahrscheinlich gewesen wären. Allerdings sind die Ergebnisse einigen Teilnehmer*innen nicht progressiv genug, was auch an der unzureichenden Diversität des Gremiums liegt.

FUßNOTEN

  • 1

    Die Räte haben das Recht, vor Entscheidungen vom Bischof gehört zu werden. Sie haben keine operativen Befugnisse.

  • 2

    Synode heißt so viel wie Versammlung, Treffen oder Zusammenkunft.

  • 3

    Christian Rüther berichtet in einem Vortrag bei einer Konferenz selbst vom Hergang: Sociacracy for all: Der Bischof und der Konsent (2022)

  • 4

    Heute bei dir: Der Kompass (2021)

  • 5

    Drei Menschen unter 30, weil eine der Personen, die als U40 entsandt war, ebenfalls U30 war.

  • 6
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