Seit Jahrhunderten bewahren und unterstützen indigene Völker unsere Ökosysteme. Sie sehen die Umwelt als lebendig an, und nicht als bloße Ressource. Diese Weltsicht hilft auch bei der Entwicklung von Organisationen und einer regenerativen Wirtschaft.
Weltweit gibt es etwa 476 Millionen indigene Menschen.1Somit übersteigt die Zahl indigener Menschen die gesamte Bevölkerung der Europäischen Union. Zu den indigenen Völkern gehören beispielsweise die Quechua aus der Andenregion in Südamerika, die Aborigines aus Australien, die Ainu aus Japan und die San, die im südlichen Teil Afrikas leben. Etwa 5.000 indigene Völker gibt es insgesamt, und sie bewohnen und bewirtschaften etwa 20 Prozent der Landfläche weltweit.2
Und nicht nur das: Indigene Menschen leisten den wichtigsten Beitrag zum Erhalt der Biodiversität auf unserem Planeten. Rund 80 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten befinden sich in den von ihnen bewohnten Gebieten. Nicht ohne Grund werden Indigene deshalb als „die besten Artenschützer der Welt“ bezeichnet. Sie verwalten wichtige Schutzgebiete, ökologisch intakte Landschaften und Wälder, in denen mehrere Millionen Tonnen Kohlenstoff gespeichert werden.
Während die Industrienationen innerhalb der letzten 40 Jahre die Hälfte der natürlichen Ökosysteme auf der Erde zerstört haben, was unter anderem zu einem massiven Artensterben geführt hat, leben Indigene im Einklang mit Ökosystemen. Sie bewahren ihren Lebensraum, anstatt ihn auszubeuten – dieser Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise findet noch immer viel zu wenig Beachtung.
Darüber hinaus ist die Geschichte indigener Völker geprägt von schwerem Leid und jahrhundertelanger systematischer Unterdrückung durch europäische Kolonialmächte, die Massaker, Landraub, Vertreibung und Völkermord verübten, indigene Menschen versklavten, ihre Kultur verboten und Krankheiten einschleppten. Bis heute werden „die Rechte, das Wissen und die Methoden der indigenen und lokalen Gemeinschaften (…) vielfach nicht beachtet. Stattdessen sind sie nach wie vor vielerorts bedroht – von Entrechtung, veränderter Landnutzung, Abholzung, Ölbohrungen, dem Bau von Minen und Dämmen sowie dem Klimawandel“.3
Indigene Völker
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Zur AnmeldungAlles ist lebendig und der Mensch trägt dazu bei
Was aber unterscheidet die indigene Lebensweise von unserer? Der zentrale Unterschied ist: Die Umwelt wird von indigenen Menschen als lebendig betrachtet. Das zeigt sich zum Beispiel beim Blick auf indigene Sprachen. Robin Wall Kimmerer, Pflanzenökologin und Angehörige des indigenen Volks Potawatomi, schreibt in ihrem Buch Braiding Sweetgrass, dass in ihrer indigenen Sprache auch Pflanzen, Bäume, Flüsse, Berge oder Wetterphänomene als Personen betrachtet und bezeichnet werden – anders als in anderen Sprachen wie beispielsweise Englisch. Die Folge ist ein achtsamer, respektvoller Umgang mit der Natur, der, anders als bei den meisten nicht-indigenen Menschen, zu einer harmonischen Koexistenz führt.
Lucas Buchholz, Zukunftsforscher und Gründer der Timeless Wisdom Akademie, lebte mehrere Monate beim indigenen Volk der Kogi in Kolumbien. Die Kogi glauben, dass der Mensch die Lebendigkeit der Erde aktiv erhöhen sollte. So reichern beispielsweise indigene Völker im Amazonas-Gebiet den nährstoffarmen Boden des Regenwaldes schon seit Jahrhunderten mit einem fermentierten Gemisch aus Pflanzenresten, Kohle und Dung an, sodass sich die Bodenqualität verbessert. „Die Kogi sind der menschliche Beweis, dass der Mensch positiv wirken kann. Dem Planeten geht es in den von ihnen bewohnten Gebieten gut – nicht obwohl sie dort leben, sondern weil sie dort leben. Das ist wirklich beeindruckend und stellt das Narrativ infrage, der Mensch müsse die Umwelt für seinen Lebensraum notwendigerweise zerstören“, sagt Lucas. Tatsächlich stammt die Vorstellung einer unberührten Natur im Gegensatz zu einer entwickelten Zivilisation aus der Kolonialzeit. In der Wissenschaft setzt sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, dass vermeintlich unberührte Wildnis-Landschaften eigentlich uralte Kulturlandschaften sind, die von den dort lebenden indigenen Völkern beeinflusst werden.
Wenn westliche Wissenschaft an ihre Grenzen stößt
„Unsere auf Objektivität und Nachweisbarkeit ausgerichtete wissenschaftliche Herangehensweise unterscheidet sich grundlegend von indigenen Weltanschauungen und kulturellen Werten“, schreibt Ulrike Prinz in Spektrum der Wissenschaft.4 In der Wissenschaft würde die Weltsicht indigener Menschen, die Subjektivierung der Natur, häufig nicht ernst genommen. In einer gemeinsamen Studie der Leuphana Universität Lüneburg und der Universität Stockholm wurde untersucht, wie das Wissen indigener Völker in den wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs einfließt. Die Forscher*innen kamen zu dem Ergebnis, dass es meist nur zur Bestätigung und Ergänzung bereits bekannter wissenschaftlicher Erkenntnisse genutzt wird, nicht aber, um wirklich von indigenen und lokalen Wissenssystemen zu lernen.
Ganz im Sinne einer Kompetenz-Hierarchie, bei der Verantwortung, Macht und Entscheidungsfreiheit immer bei der Person oder Personengruppe mit der größten Kompetenz liegen, müssen wir anfangen, die Fähigkeiten und den Beitrag der indigenen Völker anzuerkennen. Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass unser Ökosystem noch nicht vollständig zusammengebrochen ist. Das traditionelle Wissen indigener Völker ist daher elementar für globale Herausforderungen wie die Bekämpfung der Klimakrise oder den Erhalt der Biodiversität. Und davon können wir auch etwas für Neues Arbeiten mitnehmen!
Eine neue Sicht auf die Welt und Organisationen
Unser eigenes System kommt schon lange an seine Grenzen. „Wir haben überall auf der Welt in sich geschlossene Systeme geschaffen, die sich vom Leben abgekoppelt haben und einer sich selbst genügenden Logik folgen. Solange wir Ressourcen und Energie von außen zuführen, funktionieren die Systeme und kurzfristig sind sie auch sehr effizient”, stellt Lucas Buchholz fest. „Langfristig laugen wir aber aus. Unsere große Aufgabe ist es deshalb, Organisationen zu schaffen, die in die Kreisläufe des Lebens eingebunden sind.“ Auch der Organisationsberater Frederic Laloux schlägt in seinem Buch Reinventing Organizations vor, dass wir Organisationen als evolutionäre, lebendige Systeme betrachten, die in eine nicht-menschliche, aber genauso wichtige Umwelt eingebettet sind.
Agilität und Resilienz
Wenn von indigenen Menschen die Rede ist, wird häufig hervorgehoben, dass sie jahrhundertealtes Wissen an nachfolgende Generationen weitergeben. Indigene Menschen erweitern und erneuern ihr Wissen aber auch ständig. Seit Jahrhunderten müssen sie sich an eine sich verändernde Umwelt anpassen, beispielsweise durch Kolonialisierung und Vertreibung aus ihren bekannten Territorien. Ulrike Prinz schreibt in Spektrum der Wissenschaft, dass wir von indigenen Menschen lernen können, wie sich sozial-ökologische Systeme steuern lassen und Krisen und Veränderungen bewältigt werden: „Sie bleiben flexibel, hegen und pflegen die Vielfalt ihrer Nahrungsgrundlagen und passen sich so den Gegebenheiten ihrer biosozialen Umwelt bestmöglich an.“
Keine Trennung von Arbeit und Leben
Lucas berichtet, dass die Kogi zwar sehr wenig schlafen, aber eine ähnliche Lebenserwartung wie Menschen in Industrienationen haben. Er vermutet den Grund dafür in ihrem Arbeitsrhythmus: Sie arbeiten jeden Tag, kennen keine Wochenenden oder freie Tage. Eine Trennung von Arbeit und Freizeit gibt es nicht. Ihre Arbeit ist für sie Ausdruck von Leben, sie empfinden sie als sinnerfüllend und wirkungsvoll und daher auch nicht in Abgrenzung zu einer selbstbestimmt strukturierten Freizeit. Lucas nimmt die Kogi dadurch als deutlich ausgeglichener und zufriedener als westliche Zivilisationen wahr. Flexible Arbeitszeitmodelle könnten es uns ermöglichen, eine ähnliche Balance zwischen Arbeit und Leben zu erreichen wie die Kogi: indem wir Arbeit nicht als isolierte Pflicht betrachten, sondern in den natürlichen Rhythmus des Lebens integrieren.
Alunayiwasi – oder: Gewaltfreie Kommunikation
Aluna bezeichnet das spirituelle Bewusstsein und die geistige Welt der Kogi. Davon abgeleitet ist Alunayiwasi – eine Methode der gemeinschaftlichen Aussprache, die ihnen hilft, in Harmonie mit der Welt und miteinander zu leben. Alunayiwasi ist dabei ein zentrales Element in der Konfliktlösung der Kogi, da es ihnen ermöglicht, offen alles Gefühlte, Gedachte und Gesagte auszusprechen und dies spirituell an die Natur abzugeben. Gleichzeitig erkennen sie die tieferen spirituellen und sozialen Verbindungen zwischen Menschen untereinander und zur Natur an. Durch Alunayiwasi entladen sich die Kogi mental und emotional und ermöglichen es, das soziale Gleichgewicht wiederherzustellen und langfristigen Frieden zu gewährleisten. Alunayiwasi hat Ähnlichkeit mit der Gewaltfreien Kommunikation. Diese geht, wenn sie nicht nur als Kommunikationsmodell, sondern als Lebenshaltung verstanden wird, über das bloße Austauschen von Worten hinaus und integriert ein tiefes Verständnis für die verborgenen Ebenen von Gefühlen, Bedürfnissen und sozialen Verbindungen. Sie hilft uns, achtsamer mit unseren Mitmenschen umzugehen.
Gewaltfreie Kommunikation
New Work GlossarWas wir endlich lernen müssen
Wir sollten unsere Verpflichtung, indigene Territorien zu schützen und zurückzugeben, ernst nehmen und umsetzen. Regeneration heißt nämlich auch, Ungleichheit und Ausbeutung zu überwinden. In Lateinamerika wurden im Zeitraum von 2009 bis 2018 insgesamt 1.356 Angriffe auf indigene Menschen und lokale Gemeinschaften gemeldet. Davon endeten 375 tödlich. In Skandinavien müssen die Sámi ihre Gebiete vor Unternehmen verteidigen, die dort Mineralien für die Produktion von Batterien für E-Autos abbauen und dadurch Lebensräume zerstören sowie Böden und Wasser verschmutzen. Der Konflikt wirft grundlegende Fragen darüber auf, was Nachhaltigkeit bedeutet: Kann eine Technologie als nachhaltig bezeichnet werden, wenn ihre Produktion erhebliche Umweltschäden verursacht und die Lebensweisen indigener Völker zerstört, die zur Erhöhung der Biodiversität beitragen? Wie können globale Umweltziele erreicht werden, ohne die lokalen Interessen und Rechte der betroffenen Gemeinschaften zu verletzen?
Wir können ganz praktische Dinge von indigenen Völkern lernen, da sie uns einige Schritte voraus sind, insbesondere was den Erhalt von Biodiversität angeht.
Und nicht zuletzt können wir von indigenen Menschen auch lernen, eine neue Haltung zum Leben und zur Rolle des Menschen einzunehmen. Wenn wir nämlich nicht qua Naturgesetz Zerstörer*innen sind, stellt uns das unweigerlich vor die Fragen: Wer sind wir dann? Und: Wie möchten wir in der Welt wirken?
Take-aways
- Indigene Menschen leisten den wichtigsten Beitrag zum Erhalt der Biodiversität auf unserem Planeten: 80 Prozent aller verbliebenen Tier- und Pflanzenarten befinden sich in ihren Gebieten.
- Statt diesen Beitrag anzuerkennen, zerstören wir ihren Lebensraum – und unseren gleich mit. Damit müssen wir aufhören und indigenes Wissen und indigene Weltsichten respektieren und anerkennen.
- Darüber hinaus können wir einiges von indigenen Menschen für unsere Art zu wirtschaften und zu arbeiten lernen, insbesondere die Denk- und Handlungsweise in Einklang mit der Natur und dem Planeten.
Zum Weiterlesen und -machen
- Das Spore House in Berlin ist eine Plattform für Austausch und gegenseitiges Lernen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Weben von Dialogen und Verbindungen zwischen Gruppen und Gemeinschaften, deren Leben in einen respektvollen Umgang mit der Natur eingebettet ist – im Globalen Süden sowie im Globalen Norden.
- Manche Wissenschaftler*innen beschreiben den massiven Rückgang der Biodiversität als das sechste große Massensterben der Erdgeschichte. Wenn du genaueres dazu wissen willst, kannst du das Buch The Sixth Extinction von Elizabeth Kolbert lesen.
- Robin Wall Kimmerers Buch Braiding Sweetgrass verbindet persönliche Geschichten mit ökologischem Wissen und indigenen Perspektiven. Das Buch lädt dazu ein, eine tiefere Verbindung zur und eine respektvolle Haltung gegenüber der Natur zu entwickeln.
FUßNOTEN
- 1
In dieser Zahl sind sowohl Menschen inkludiert, die nach der Tradition ihres Volkes leben und arbeiten, als auch Menschen, die von indigenen Bevölkerungen abstammen, aber beispielsweise städtischen Jobs nachgehen. ↩
- 2
Auch in Deutschland gibt es ein Volk, das darum kämpft, als indigenes Volk anerkannt zu werden: die Sorben. Sie haben keinen systematischen Völkermord erlebt, blicken jedoch auf eine lange Geschichte der Unterdrückung zurück ↩
- 3
Deutschlandfunk (Hg.): Bedürfnisse indigener Gruppen schützen (2021) ↩
- 4
Ulrike Prinz: Die Hüter der Vielfalt (2020) ↩