Sprache ist unser wichtigstes Werkzeug in der Welt der Neuen Arbeit. In unserer Kolumne zeigen wir, wie sie sich noch ein bisschen sinn- und verantwortungsvoller einsetzen lässt. Diesmal geht es um das Wort „Spannung“, das viele Organisationen nutzen, um Veränderungspotenziale zu kommunizieren. Warum ist der Begriff dafür so gut geeignet?
Eines der ersten To-dos für jede*n neue*n Mitarbeiter*in bei Neue Narrative lautet: „Schreibe eine Spannung auf die offene Agenda in einem Meeting.“ Meine Reaktion darauf fiel wahrscheinlich genauso aus wie bei den meisten anderen: Verwirrung darüber, was eine „Spannung“ sein soll, Ablehnung, weil ich andere doch nicht gleich am Anfang kritisieren will. Ich streite mich nicht gerne. Also stand diese Aufgabe etwas länger auf meiner To-do-Liste als die anderen.
Wir bekommen von vielen Menschen die Rückmeldung, dass es ihnen mit dem Wort ähnlich geht. Spannung klingt für sie negativ, nach Konflikt und Unstimmigkeit. Das passt nicht zur konstruktiven Kommunikation, die in der neuen Arbeitswelt doch so wichtig ist. Ich kann diese anfängliche Skepsis gut nachvollziehen. Aber nachdem ich meine Kolleg*innen eine Woche dabei beobachtet hatte, wie sie in jedem Meeting Spannungen einbringen und lösen, wurde mir klar: Spannungen haben nichts mit Negativität oder Positivität zu tun – sondern mit Veränderung.
Was Spannungen sind
Das Wort „Spannung“ (engl. tension) stammt aus Holacracy, einem Betriebssystem für Organisationen, und wird im Arbeitskontext oft missverstanden. Das kann damit zusammenhängen, dass es sehr weit gefasst ist. Spannungen können in den unterschiedlichsten Bereichen entstehen und sich zum Beispiel so anhören: „Hast du eine Idee, warum der Instagram-Post gestern so gut performt hat?“, „Steht der Termin für das nächste Teamevent schon fest?“ oder „Ich brauche bis Freitag deinen Input zur Strategie für das nächste Trimester“. Im Prinzip kann alles eine Spannung sein: alle Ideen, Fragen, ungelösten Probleme und offenen Enden, die jede*r von uns ständig mit sich herumträgt.
Im Kontext des Neuen Arbeitens meinen wir mit Spannung eine neutrale Spannung im physikalischen Sinn, also wie ein Energiepotenzial, das noch nicht freigesetzt wurde. Bei Neue Narrative und ähnlich organisierten Teams sind Spannungen ein elementarer Bestandteil der täglichen Arbeit. Denn bei den Organisationen der Zukunft geht es um evolutionäre, adaptive Organisationen, die in der Lage sein müssen, sich schnell und iterativ anzupassen. Eine bewusste Kultur, die dazu anregt, Spannungen bei sich aufzuspüren und zu kommunizieren, soll dabei die nötige Veränderung vorantreiben, denn jede Spannung wird gelöst oder, falls das nicht direkt möglich ist, in einen konkreten nächsten Schritt verpackt.
Spannungen helfen uns also, Organisationen von innen zu verändern. Sie sind nichts Negatives, sondern etwas Alltägliches, das wir in der Zusammenarbeit wahrnehmen. Warum fiel es mir am Anfang dann trotzdem so schwer, mit Spannungen zu arbeiten?
Vermeidungsstrategien statt offene Kommunikation
Ein Grund könnte die Art und Weise sein, wie Organisationen jahrzehntelang strukturiert waren. Viele Menschen wurden nicht darin bestärkt, eigene Spannungen wahrzunehmen, sondern fremde Erwartungen zu erfüllen. In Organisationen mit starren Positionshierarchien und wenig psychologischer Sicherheit fehlen die Räume, um Spannungen zu äußern und eigenverantwortlich in nächste Schritte zu übersetzen. Mitarbeiter*innen machen die Erfahrung, dass es besser ist, keine eigenen Themen einzubringen und äußern stattdessen Spannungen mit unklaren Verantwortlichkeiten („Man sollte …“) oder solche, von denen sie denken, dass der*die Chef*in sie hat („Wäre es nicht sinnvoll …?“). Die Berührungsängste mit Spannungen haben also wahrscheinlich weniger mit dem Begriff an sich zu tun, und mehr mit dem Konzept, das dahintersteht.
Ein weiterer Grund könnte sein, dass im Arbeitskontext regelmäßig über Probleme, aber zu wenig über Lösungen gesprochen wird. Wir sind es gewohnt, ellenlangen Problembeschreibungen zuzuhören. Da liegt es nahe, bei Spannungen hauptsächlich etwas Negatives zu vermuten. Was dabei zu kurz kommt: Selbst wenn es sich bei der Spannung um Kritik handelt, nimmt diese in der Regel nicht den größten Raum ein. Viel wichtiger ist die Frage: „Was brauchst du, um deine Spannung zu lösen?“ Jede Spannung hat also eine konstruktive Seite mit handfesten nächsten Schritten zur Lösung des Problems.
Spannungsbasiertes Arbeiten erfordert manchmal Mut und fast immer eigenverantwortliches Handeln. Es ist okay, wenn es ein bisschen Zeit braucht, mit dem Wort und dem Konzept warm zu werden. Es gibt einige Dinge, die mir dabei geholfen haben:
1. Spannungen entstehen immer in einer Person
Eine Organisation hat keine Spannung, ein Team auch nicht – Spannungen entstehen immer in einer Person. Sie ist dafür verantwortlich, die Spannung einzubringen, damit etwas Neues entstehen kann. Ich bleibe deshalb immer bei mir, wenn ich eine Spannung teile. Ich spreche nicht von „uns“ oder „wir“, sondern von meiner Spannung. Andere können nachfragen und unterstützen, die Lösungsfindung liegt aber immer bei der Person, die die Spannung eingebracht hat.
2. Ein fester Ort für alle Spannungen
Es baut Hürden ab, Spannungen auszusprechen, wenn es einen festen Platz für sie gibt, den jede*r im Team kennt. Bei NN haben wir in jedem Meeting einen Spannungsspeicher. Alle Spannungen, die vor oder während des Meetings aufkommen, werden in den Speicher aufgenommen und in einem fest in der Agenda verankerten Slot bearbeitet. Spannungen, die im Alltag auftauchen, können auch im Speicher abgelegt und im nächsten Meeting angesprochen werden.
Wie arbeitet man mit Spannungen?
Zum New Work Glossar3. Je mehr Spannungen, desto besser.
Es hilft, die Erwartungen an Spannungen herunterzuschrauben. Viele Menschen denken, ihre Spannung müsste groß und weltverändernd sein, damit sie teilenswert ist. Aber schon lose Ideen sind Spannungen, die andere inspirieren und positiv wirken können. Und wenn Spannungen sich nach kurzer Betrachtung als unwichtig herausstellen, ist das auch okay. Grundsätzlich gilt: je mehr Spannungen, desto besser. Die*der Moderator*in eines Meetings kann das beispielsweise dadurch erreichen, dass sie*er ganz selbstverständlich fragt: „Welche Spannungen habt ihr mitgebracht?“
4. Jede Spannung klingt anders
Gerade weil Spannungen so vielseitig sind, ist es manchmal schwierig, die passenden Worte zu finden, um sie mitzuteilen. In dieser Tabelle stehen die fünf Kategorien von Spannungen, mit denen wir bei Neue Narrative arbeiten. Die Kategorien sind auch an Holacracy angelehnt. Diese Satzanfänge haben es mir leichter gemacht, meine Spannungen auszudrücken:
Fünf Kategorien von Spannungen
Information holen
- „Ich brauche von dir die Information, ob …“
- „Weißt du über … Bescheid?“
- „Was kannst du mir zu … etwas sagen?“
Information teilen
- „Ich möchte mit dir die Information teilen, dass …“
- „Mir ist aufgefallen, dass …“
- „Ich habe eine Idee für …“
Resonanz einholen
- „Was ist eure Meinung zu …?“
- „Wie findet ihr …?“
- „Schickt mir euer Feedback zu … gerne nach dem Meeting.“
To-Do anfordern
- „Kannst du … bis … erledigen?“
- „Ich brauche von dir Unterstützung bei …“
Rolle / Regel
- „In welche Rolle fällt …?“
- „Ich möchte eine neue Regel für … festlegen.“
Jede Organisation hat ihre eigene Sprache
Bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich den Begriff und seine Bedeutung verinnerlicht hatte. Mittlerweile liebe ich Spannungen und den Effekt, den sie haben: Beobachtungen nutzbar machen und die Organisation, in der ich arbeite, jede Woche weiterentwickeln. Das heißt aber nicht, dass das Wort zu jedem Team und jeder Organisation passen muss. Am wichtigsten ist, dass es für euch und eure Sprache funktioniert.