Bei Neue Narrative gibt es keine*n Chefredakteur*in. Stattdessen haben wir einen Content-Prozess gebaut, der großen Egos keinen Raum gibt und immer die Person entscheiden lässt, die am meisten Kompetenz mitbringt.
Klassische Redaktionen bestehen aus sehr vielen Chef*innen. Es gibt mindestens ein*e Chefredakteur*in, eine*n Chef*in vom Dienst, Ressortleiter*innen, Chefreporter*innen und so weiter. Als wir angefangen haben, Neue Narrative herauszubringen, haben wir uns dagegen entschieden, solche Strukturen, die Verantwortung starr in einzelnen Personen konzentrieren, nachzubauen. Einerseits weil wir zu Beginn nur knappe Ressourcen hatten, andererseits, weil wir überzeugt davon waren, dass es sinnvollere Organisationsformen für die Produktion von journalistischen Inhalten gibt.
Deshalb entwickelten wir einen ersten Prototypen für einen selbstorganisierten Content-Prozess. Folgende Prinzipien liegen ihm zugrunde:
Prinzipien, die für unsere Redaktion prägend sind
1. Asynchrones Arbeiten:
Bei den ersten Ausgaben von Neue Narrative waren wir drei Personen im Kernteam, alle hatten neben dem Magazin noch einen Vollzeit-Job. Zeit für Meetings zu finden war schwierig, deshalb brauchten wir einen Prozess, in den alle flexibel ihre Zeit-Kapazitäten einbringen konnten.
2. Klare Verantwortlichkeiten:
Bei der Erstellung von Inhalten gibt es nur selten ein richtig und falsch, häufig aber umso mehr Meinungen. Ohne eine klare Rollenhierarchie kann das zu viel Stress und Konflikten führen. Um das zu vermeiden, brauchen wir klare Verantwortlichkeiten und schnelle Entscheidungswege.
3. Beste Qualität:
An jedes neue Magazin ist unser Anspruch, dass es das beste wird, das wir jemals gemacht haben. Als journalistisches Medienangebot bedeutet das nicht nur, ein Produkt zu machen, das sich gut anfühlt, sondern auch wasserdichte Recherchen abzuliefern und verantwortungsvoll mit den Protagonist*innen umzugehen.
4. Planbarkeit:
Für jede neue Ausgabe bestellt unsere Druckerei Hunderttausende Bögen Papier und reserviert Druckmaschinen für uns. Unser Magazin kann nicht einfach so Wochen später erscheinen, wenn wir es mal nicht pünktlich schaffen. Unser Prozess muss zuverlässig sein.
5. Kompetenz statt Ego:
Unser Prozess soll nicht große Egos incentivieren, sondern diejenigen, die zu einem Thema die größte Kompetenz mitbringen. Das bedeutet, dass eine Person bei einem Thema alleine entscheiden kann, bei einem anderen aber nur Fragen stellen oder Impulse geben.
6. Transparente Zwischenergebnisse:
Schreibprozesse sind häufig Blackboxen, in denen niemand weiß, wo der Inhalt gerade steht. Das führt zu geringer Vorhersehbarkeit und setzt zu viel Vertrauen auf die Arbeit einsamer Genies. Wir glauben eher an die kollektive Intelligenz, in der mehrere Gehirne an einem Text mitdenken. Daher wollen wir Zwischenergebnisse immer transparent und besprechbar machen.
Veränderbare Rollen, mit denen wir Verantwortung verteilen
Der wichtigste Baustein unserer Organisation ist das Rollenmodell. Statt der oben beschriebenen Chefpositionen gibt es bei uns Rollen. Rollen sind kleinteiliger als Positionen und lassen sich stärker an die tatsächlichen Bedürfnisse eines Teams anpassen. Immer wenn es irgendwo ein Verantwortungsvakuum gibt, schaffen wir eine Rolle. Wer eine Rolle inne hat, trifft am Ende auch die Entscheidung. Hat die Rolle nächstes Mal eine andere Person, trifft sie die Entscheidung.
Welche Veränderungen das Arbeiten in Rollen bewirkt, lässt sich an einem Beispiel erklären:
Fast alle Redaktionen haben eine*n oder mehrere Chefredakteur*innen. Die Position wird natürlich unterschiedlich ausgefüllt. Klar ist aber, dass ein*e Chefredakteur*in unfassbar viele unterschiedliche Aufgaben hat:
Er*sie managt Menschen, ist Mentor*in für Redakteur*innen und Talente, setzt Themen, entwickelt Formate mit, greift in die Produktentwicklung ein, führt Interviews mit Staatsoberhäuptern, schreibt Kommentare, hat einen eigenen Newsletter und einen eigenen Podcast.
Es ist unwahrscheinlich, dass von all den klugen Menschen in einem Medienunternehmen der*die Chefredakteur*in in all diesen Bereichen die kompetenteste Person ist. Selbst wenn das so sein sollte, ist es unwahrscheinlich, dass eine Person, die ihre begrenzte Zeit auf all diese Bereiche aufteilen muss, dann überall Höchstleistungen erzielt. Das Positionsdenken führt also nicht nur dazu, dass sehr viel Macht in sehr wenigen Personen gebunden ist, sondern auch dazu, dass Menschen Aufgaben erledigen, die andere vielleicht besser könnten.
Bei Neue Narrative fallen all die oben beschriebenen (Führungs-)Aufgaben auch an. (An den Interviews mit Staatsoberhäuptern arbeiten wir noch.) Sie liegen aber nicht bei einer Person, sondern bei vielen: Wir zerstückeln das Verantwortungscluster auf mehrere kleinteilige Rollen und verteilen so die Verantwortung im Team. Unten folgen ein paar Rollen, die es bei Neue Narrative gibt, in klassischen Redaktionen aber nicht. Jede Rolle hat ein klar definiertes Ziel und beinhaltet konkrete Aufgaben, um dieses Ziel zu erreichen.
Rolle: Process Owner
Sprints und Tickets, um Zwischenergebnisse transparent zu machen
Content-Prozesse sind häufig Blackboxen und finden vor allem in den Köpfen der beteiligten Menschen statt. Das macht ein Magazin schlecht planbar und Co-Kreation quasi unmöglich – der*die Autor*in liefert einen fertigen Text, bekommt ganz am Ende noch mal Feedback und dann muss der Inhalt auch schon fertig sein.
Um den Prozess modularer zu gestalten, entwickeln wir unser Magazin in Sprints, also in kurzen, fokussierten Phasen, die sich jeweils auf nur einen Teilschritt auf dem Weg zum fertigen Magazin konzentrieren. Wir brauchen genau zehn Sprints bis zum fertigen Magazin:
- Konzeption: Jeder Text hat eine Aussage, die uns überzeugt. In diesem Schritt geht es erst mal nur darum, Texte anzurecherchieren und eine Überschrift und einen Teaser zu schreiben. An denen merken wir in der Regel, ob der Text trägt oder nicht.
- Recherche: Alle Informationen, die wir für den Text brauchen, sind da. In diesem Sprint gibt es keine Nebengeräusche, sondern vollen Fokus auf die Recherche. Die Autor*innen führen Hintergrundgespräche und Interviews für den späteren Text.
- Sparring: Wir haben im Sparring für jeden Text eine klare Struktur entwickelt. Wir haben an dieser Stelle seitenlange Google-Dokumente mit sehr vielen Informationen. Zu diesem Zeitpunkt tun sich Autor*innen- und Sparring-Rollen zusammen und bauen ein Textgerüst mit den wichtigsten Aussagen und Argumenten des späteren Textes.
- Entwicklung: 80-Prozent-Version ist fertig geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt steht noch kein fertiger Satz im Dokument. Die Autor*innen schreiben sehr fokussiert den Text in die bereits entstandene Struktur. Ganz wichtig: Es kommt an dieser Stelle nicht auf perfekte Einstiegssätze an, sondern darauf, dass alle Fakten stimmen und eine ausformulierte 80-Prozent-Version des Textes steht.
- NN-Check: Der Text erfüllt die Sound Policy von Neue Narrative. Ehe das externe Lektorat startet, checkt eine Rolle, ob der Text in seinem Aufbau und seinem Sound zu Neue Narrative passt. Dazu haben wir eine Sound Policy formuliert.
- Lektorat: Alle Texte sind lektoriert und bei 95 Prozent. Die Lektoratsrollen übernehmen die Texte und entwickeln sie weiter. Das machen sie nicht über generisches Feedback („Der Einstieg ist noch nicht rund“), sondern mit konkreten Verbesserungsvorschlägen im Nachverfolgungsmodus, die der*die Autor*in hinterher annimmt.
- Korrektorat: Alle Texte sind korrigiert. Kein Text hat mehr Fehler.
- Texte setzen: Alle Texte wurden von der Grafik gesetzt. Schon früh im Prozess begleiten die Grafik- und Illustrationsrollen die Autor*innen dabei, Text und Visuelles parallel zu denken. In diesem Sprint werden die Texte ins Layout gesetzt.
- Fahnenkorrektur: Die fertigen PDFs sind korrigiert.
- Bugfix: Alle Bugs wurden behoben. Wenige Tage vor Druck eröffnen wir das Bug-Board, also ein digitales Ticket-System, in dem wir alle Fehler und Unstimmigkeiten bearbeiten, die sich in der finalen Gesamt-PDF finden lassen.
Rolle: Sparring
Zu jedem Sprint gibt es eine Definition of Done (DoD), also eine ganz klare Auflistung dessen, was passiert sein muss, damit ein Inhalt den Sprint abschließen und in den nächsten vorrücken kann. In der Infobox gibt es ein Beispiel.
Ganz wichtig dabei: Natürlich verschwimmen die Sprints in der Praxis, sie fließen ineinander, laufen teilweise gleichzeitig. Nicht jeder Text ist zum vorgesehenen Zeitpunkt da, wo er sein sollte, weil sich das einfach nicht hundertprozentig steuern lässt. Wichtig ist für uns aber, dass die meisten Texte im Zeitplan sind und dass jeder Inhalt den gesamten Prozess mit allen zehn Phasen durchläuft, um letztlich ins Magazin kommen zu können.
Um das abzubilden, ist jeder Text ein Ticket in unserem Board, mit dem wir uns in der Magazinarbeit organisieren. In unseren wöchentlichen Sync-Meetings reviewen wir alle Tickets, fragen, ob die Definition of Done erfüllt und was der nächste Schritt ist. Tickets, die im Prozess zurückfallen oder das Ziel eines Sprints nicht erreichen können, fliegen raus oder landen in einem Backlog für künftige Ausgaben.
Ein guter Prozess ist niemals fertig
Der beschriebene Prozess ist lediglich eine Momentaufnahme. Gestartet sind wir mit einer deutlich schlankeren Version. Und in ein paar Monaten wird sich der Prozess schon wieder verändert haben, um neue Erkenntnisse, die wir bis dahin hatten, zu integrieren. Dafür gibt es das Retro-Meeting, das wir nach jedem abgeschlossenen Magazinprozess durchführen.
Während des gesamten Prozesses sammeln wir Spannungen zum aktuellen Magazin in einem gemeinsamen Backlog. Häufig kommen mehr als 100 Stück zusammen. Im Retro-Meeting bearbeiten wir die Spannungen und fragen uns zu jeder: Was können wir nächstes Mal noch besser machen? Auf diese Weise entstehen beispielsweise neue Rollen, neue Sprints oder sogar ganze Policies.
Was uns dabei wichtig ist: Im laufenden Prozess ersparen wir uns den Stress, über das zu sprechen, was gerade nicht so gut läuft. Stattdessen sammeln wir diese Punkte in unserem Retro-Board und sprechen darüber, wenn das Heft im Druck und alle Beteiligten gelassen und ausgeruht sind. Das hat den Vorteil, dass wir uns jede Spannung auch wirklich mit der nötigen Ruhe ansehen können.