Vor vier Jahren haben die Mitarbeiter*innen der österreichischen Marketing-Agentur Emagnetix ihre Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn schrittweise auf 30 Stunden gesenkt. Trotzdem steigerte das Unternehmen seine Produktivität deutlich. Wie haben sie das gemacht?
In Bad Leonfelden, nicht weit entfernt von der Stadt Linz, sitzt die Online-Marketing-Agentur Emagnetix. Linz zieht viele Start-ups an. Für die 2009 gegründete Agentur bedeutet das einen doppelten Standortnachteil: Sie konkurrieren mit den Unternehmen in der Stadt um die Angestellten, sind aber in der Provinz angesiedelt. Acht Jahre nach der Gründung kamen zwar genügend Aufträge rein, aber die wesentliche Last verteilte sich auf wenige Schlüsselpositionen.
Immer wieder stand das Unternehmen vor der Entscheidung, eine Überlastung des Teams in Kauf zu nehmen oder eingehende Aufträge abzusagen. Die Lösung lag auf der Hand: mehr Mitarbeiter*innen einstellen. Doch auf vakante Stellen gab es wenige bis gar keine Bewerbungen.
Die Geschäftsführung entschied sich daher für einen Schritt, der die Mitarbeiter*innen zunächst ziemlich irritierte: Sie verkündete, die Arbeitszeit von 38,5 auf 30 Wochenstunden zu senken. Das Kalkül war, dass die Attraktivität von Emagnetix als Arbeitgeber steigt, sich mehr Leute bewerben und so ein Ausgleich möglich wird.

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Abo sichernÜberlastete Mitarbeiter*innen und erfolglose Suche nach neuen
Denn der Personalmangel behinderte das Wachstum der Agentur. „Ab einem gewissen Punkt können neue Aufträge nur durch zusätzliche Mitarbeiter angenommen werden, um die Bestehenden nicht über die Belastungsgrenze hinaus zu fordern“, sagt Stefan Mitmansgruber, der seit 2017 fest angestellt ist und die Geschäftsentwicklung von Projekten zum Kunden verantwortet.
Doch je ausgeschriebener Juniorstelle gab es nur etwa zehn Bewerber*innen. „Davon war aber die Hälfte fachlich nicht qualifiziert. Und häufig war von den übrigen auch niemand geeignet“, sagt Klaus Hochreiter, der Gründer und Geschäftsführer der Agentur ist. „Erfahrene Mitarbeiter*innen waren noch schwieriger zu rekrutieren“, sagt er.
Auf Seniorstellen bewarb sich über viele Monate hinweg niemand. Das läge aber nicht nur am Standortnachteil, auch der vielseits beklagte Fachkräftemangel und eine geänderte Erwartungshaltung gegenüber Arbeitgeber*innen seien Ursachen. „Die junge Generation lebt nicht, um zu arbeiten. Sie arbeitet, um gut zu leben“, sagt Klaus.
Folgende Anforderungen hatte das Unternehmen an eine Lösung:
- Entlastung der bestehenden Mitarbeiter*innen
- Produktivität des Unternehmens beibehalten
- Rekrutierung qualifizierter Mitarbeiter*innen
„Die junge Generation lebt nicht, um zu arbeiten. Sie arbeitet, um gut zu leben“
Klaus Hochreiter
Stufenweise Reduktion der Arbeitszeit um 22 Prozent
Klaus hatte sich von schwedischen Modellversuchen inspirieren lassen. Dort wurden Arbeitszeitverkürzungen als Mittel eingesetzt, um Berufe attraktiver zu machen. Doch bevor die Maßnahme neue Bewerber*innen anziehen könnte, würde für die Mitarbeiter*innen die sowieso schon hohe Arbeitslast in weniger Zeit zu bewältigen sein. Insofern waren die Reaktionen gemischt, als Klaus im Mai 2017 den Angestellten seine Idee vorstellte.
Er hatte sich dazu extra einen örtlichen Kinosaal gemietet und eine Präsentation vorbereitet. „Wir wollten es groß aufziehen, so wie man es von US-Tech-Firmen kennt.“ Auf der Leinwand zeigte Klaus einen Zeitstrahl über die Entwicklung der Wochenarbeitszeit in Österreich: beginnend mit 80 Stunden im 19. Jahrhundert, endend mit 30 Stunden mit Emagnetix als Pionier. „Aus einigen platzte die Euphorie heraus, andere waren sichtlich skeptisch“, sagt Klaus.
„Als auf der Folie ‚30 sind genug‘ stand, waren wir erst mal sprachlos“, sagt Carina Hammer, die seit 2016 bei Emagnetix arbeitet und die Content-Marketing-Unit leitet. „Ich habe mich gefragt: Wie soll das denn funktionieren? Kann das für die Firma gut sein? Ich hatte noch nie von etwas Vergleichbarem gehört.“ Erst die Skizze des Prozesses überzeugte sie von der Idee.
Schritt 1: Vorstellung der Vision
In erster Linie wollte Klaus mit dem Vortrag die Mitarbeiter*innen einbeziehen. „Alle sollten dabei sein, sonst würde es nicht klappen“, sagt er. Klaus erhoffte sich von der Maßnahme, dass Emagnetix für Fachkräfte attraktiver und sichtbarer wird – mittelfristig. Kurzfristig musste aber eine Arbeitszeitreduktion von 8,5 Wochenstunden, also etwa 22 Prozent, ausgeglichen werden. Dafür wählte die Agentur einen mehrstufigen Prozess mit möglicher Rückbindung an die Ausgangssituation für den Notfall.
Schritt 2: Identifikation von Maßnahmen
Zunächst prüften alle Mitarbeiter*innen ihre Arbeitsabläufe auf mögliche Effizienzsteigerung bei gleichbleibender Qualität. „Auch eine Arbeitsverdichtung wollten wir vermeiden“, sagt Klaus. Die Mitarbeiter*innen sollten also nicht ihre Kaffeepausen streichen und permanent unter hohem Druck arbeiten müssen. Stattdessen ging es darum, (digitale) Methoden und Werkzeuge anzuwenden, die Arbeitslast smart auf mehrere Schultern zu verteilen und Unnötiges in Zukunft sein zu lassen.
In einem mehrmonatigen Prozess identifizierten alle Mitarbeiter*innen insgesamt fast 100 Einzelmaßnahmen und prognostizierten die entsprechende Zeitersparnis. „Wir haben unseren gesamten Arbeitsalltag unter die Lupe genommen“, sagt Carina. Viele der Maßnahmen sind individuell auf das Geschäftsmodell von Emagnetix zugeschnitten, das vor allem mit Kunden aus der Tourismusbranche zusammenarbeitet. Folgende drei waren allerdings zentral und lassen sich vielerorts einsetzen:
- Automatisierung von relativ simplen, redundanten Tätigkeiten. Digitale Tools werden zum Beispiel für Social-Media-Reportings und automatisierte Inhaltsanalysen eingesetzt.
- Kurze Meetings mit Agenden: Interne Termine wurden auf das notwendige Minimum reduziert. Ein Standard-Meeting dauert 30 Minuten und nur tatsächlich notwendige Teilnehmer*innen sind eingeladen. Ihnen allen soll vorher klar sein, welches Ziel das Meeting hat und was auf der Tagesordnung steht.
- Unterbrechungsfreie Zeiträume: Um bessere Bedingungen für kreative und konzentrierte Arbeitsphasen zu schaffen, hat die Agentur vollausgestattete Deep-Work-Arbeitsplätze eingerichtet, in denen Ruhe herrscht. Zusätzlich hat jede*r Mitarbeiter*in an seinem*ihrem Büroplatz ein Schild, das, wenn angebracht, allen anderen signalisiert, dass sie gerade nicht angesprochen werden möchten.
Alle Mitarbeiter*innen haben solche Maßnahmen für ihre Arbeit identifiziert und zusammen mit einer prognostizierten Zeitersparnis tabellarisch vermerkt. „Im Team haben wir diese Tabellen dann zusammengeführt und geschaut, was wir auf organisationaler Ebene verändern können“, sagt Carina. Korrekturen und Veränderungen daran wurden in der nächsten Phase, im Test und in der Evaluation vorgenommen.


Schritt 3 bis 5: Test der Maßnahmen, Evaluation und Entscheidung
In einem nächsten Schritt wurde die 30-Stunden-Woche testweise eingeführt, um die Maßnahmen auf ihre Zeitersparnis hin zu überprüfen. „Zeitgleich haben wir unsere Erreichbarkeit im Büro bis 14 Uhr begrenzt“, sagt Klaus. Nach außen hin sei das die größte Veränderung gewesen.
In der Evaluationsphase haben die Mitarbeiter*innen die sechswöchige Testphase ausgewertet. Zusammengerechnet konnten durch die Maßnahmen 17 Prozent der Zeit eingespart werden. Das ist zwar viel, aber nicht so viel, wie eine Reduktion von 38,5 auf 30 Wochenstunden bedeuten würde. Vorläufiges Ergebnis war, dass sich fünf Prozent wohl nicht ausgleichen lassen.
Deshalb beschließt Klaus, die Stunden gestaffelt zu reduzieren. Falls während der Einführung klar werden sollte, dass es nicht funktioniert, könnte die Agentur zurück in den Ausgangsmodus.
Schritt 6: Vorbereitungen
Um die Arbeitszeitverkürzung auch vertraglich zu besiegeln, waren zwei Änderungen notwendig: Die Wochenarbeitszeit musste auf 30 Stunden herabgesetzt und die bestehende Gleitzeitregelung daran angepasst werden. Außerdem hat Emagnetix eine Presseaktion für den Welttag der sozialen Gerechtigkeit terminiert, damit potenzielle Bewerber*innen auf die Agentur aufmerksam werden. Zu der Zeit ist eine gegenteilige Entwicklung öffentlich diskutiert worden: Es ging um die Erhöhung der maximalen Arbeitszeit auf täglich zwölf Stunden in Österreich. In den Medien kam das Beispiel der kleinen Agentur in Oberösterreich gerade recht, um den politischen Vorstoß zu kontrastieren. „Das hat unsere Sichtbarkeit natürlich sehr positiv beeinflusst“, sagt Klaus.

Schritt 7 und 8: Einführungsphase und Umstellung
Die Einführungsphase diente der weiteren Optimierung, um die endgültige Umstellung möglichst reibungsfrei zu realisieren. Am 1. Juni wurde zunächst auf 34 Stunden reduziert. Die Mitarbeiter*innen erprobten die reduzierte Arbeitszeit. Bis Ende September werteten sie zweimal die tatsächliche Zeitersparnis aus und reflektierten, was gut funktioniert und was nicht.
Im Oktober 2018, eineinhalb Jahre nach der Vorstellung, stellte Emagnetix dann auf 30 Wochenstunden um. Dafür wurden die vorbereiteten Änderungen der Arbeitsverträge umgesetzt, ansonsten gab es nicht mehr viel zu tun. „Nach einer Eingewöhnungsphase wurde es für mich schnell zur Normalität. In meinem privaten Umfeld hat es länger gedauert. Vielerorts wird Arbeitszeit mit Leistung gleichgesetzt“, sagt Stefan. Gerade neue Mitarbeiter*innen taten sich Klaus zufolge anfangs schwer. Deshalb entwickelte die Agentur eine Onboarding-Mappe, in der Werte und Felder erläutert werden, die für die 30-Stunden-Woche zentral sind.
Onboarding-Mappe (Paraphrasierte Kürzung)
Zunächst werden die drei zentralen Werte der Agentur vermittelt.
- Vertrauen: Wir vertrauen der Professionalität und der Kompetenz jedes Einzelnen, sind transparent und ehrlich.
- Mitspracherecht: Entscheidungen werden auf Basis von Erfahrung, Commitment, Fakten und Feedback getroffen.
- Eigenverantwortung: Wir übernehmen Verantwortung für das eigene Handeln sowie Unterlassen und agieren proaktiv.
Herzstück der Mappe sind fünf Felder, die die 30 Wochenstunden bei vollem Lohn möglich machen:
Planung
- Wir planen vorausschauend und nutzen unsere Kalender.
- Wir erledigen die aufwendigsten Aufgaben zuerst.
Produktivität und Konzentration
- Wir nehmen Rücksicht aufeinander und vermeiden Lärm.
- Wir nutzen die Arbeitszeit ausschließlich für unternehmensrelevante Tätigkeiten.
Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit
- Wir hinterfragen und optimieren Arbeitsabläufe stetig.
- Wir lernen aus Fehlern und teilen unser Wissen.
Gute Kommunikation
- Wir halten es einfach in Schrift und Sprache.
- Wir kommunizieren wertschätzend miteinander.
Technologie
- Wir automatisieren Routineaufgaben.
- Wir nutzen moderne Technik.
Auswirkungen auf die Mitarbeiter*innen
Die Einführung der 30-Stunden-Woche wurde wissenschaftlich begleitet, gefördert durch die Wiener Arbeiterkammer (Arbeitnehmer*innenvertretung). Zusätzlich wurden ein Jahr nach der Umstellung alle Mitarbeiter*innen nach ihrer Zufriedenheit befragt. Insbesondere die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben hat sich demnach deutlich verbessert: Alle Befragten gaben an, sie sei besser als vorher, für 22 von 24 sogar deutlich besser. Das habe auch die Gesundheit positiv beeinflusst. Sogar die Arbeitsbelastung empfinden die meisten, trotz der reduzierten Arbeitszeit, als geringer.
Stefan, der wie viele seiner Kolleg*innen junge Kinder hat, sagt: „Seit der Umstellung können ich und meine Frau uns viel besser gemeinsam kümmern.“ Carina dachte am Anfang, sie müsse unbedingt etwas Sinnvolles mit der zusätzlichen Zeit anfangen. „Inzwischen genieße ich meine Freizeit einfach, mache Sport und habe mehr Zeit mit meinem Freund, der im Schichtbetrieb arbeitet. Das war früher nicht so einfach.“ Die Gleichstellung im Privaten ist auch bei der Bezahlung im Unternehmen realisiert: Laut Klaus liegt der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen nahezu bei null.
Ergebnisse aus unternehmerischer Sicht
Die Mitarbeiter*innen sind seit der Arbeitszeitreduktion also zufriedener. Hauptproblem war allerdings, weitere zu rekrutieren. Vor der Umstellung gab es schlichtweg zu wenige Kandidat*innen. „Inzwischen bekommen wir bis zu 100 Bewerbungen pro Juniorstelle“, sagt Klaus. Ein Zuwachs um den Faktor zehn im Vergleich zu 2017. Und sogar für Stellenausschreibungen, die erfahrene Fachkräfte ansprechen, melden sich inzwischen teilweise 60 Personen. Klaus führt das auf das Arbeitsmodell, aber auch die hohe Sichtbarkeit zurück, die durch die Umstellung erreicht wurde.

Wie aber sieht es mit der Produktivität aus? In der Gesamtsicht ist sie im ersten Jahr nicht gestiegen, berücksichtigt ist dabei aber nicht, dass die Arbeitszeit gesunken ist. „Am Anfang ging es uns nur darum, unsere Produktivität beizubehalten.“ Danach ging es bergauf. „Wenn ich die vier Jahre vor der Einführung mit den knapp vier Jahren nach der Einführung vergleiche, haben wir eine gestiegene Produktivität von 34 Prozent“, sagt Klaus. Dazu hat er den durschnittlichen Honorarumsatz pro Mitarbeiter*in berechnet, und der steigt. „Es ist ein nachhaltiger Trend. Es lohnt sich.“
Damit sind für Emagnetix alle Anforderungen an die Lösung erfüllt. Bestehende Mitarbeiter*innen sind entlastet, qualifizierte neue sind eingestellt und die Produktivität ist dennoch gestiegen. Seinen Standortnachteil konnte die Firma damit gut wettmachen.
Zum Weiterdenken
Takeaways
- Die Agentur Emagnetix musste Aufträge ablehnen, weil Personen in der Umsetzung fehlten. Bestehende Mitarbeiter*innen waren überlastet und es gab kaum Bewerber*innen auf offene Stellen.
- Um die Attraktivität als Arbeitgeberin zu steigern, hat die Agentur die wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 auf 30 Wochenstunden verkürzt. Sie tat dies in einem mehrstufigen, iterativen Prozesses. Zentral war dabei, Maßnahmen zur Effizienzsteigerung zu identifizieren.
- Das Modell geht auf: Das Unternehmen bekommt heute sechs- bis zehnmal so viele Bewerber*innen und die bestehenden Mitarbeiter*innen sind entlastet. Zusätzlich konnte Emagnetix seine Produktivität steigern.





